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Bukeles Blaupause
»Wer die Zukunft der USA sehen will, kann einen Blick auf die Geschichte El Salvadors werfen«, so der Journalist Roberto Lovato. Wenn das zutrifft, sieht Amerika dunklen Zeiten entgegen. Denn was Nayib Bukele, der »coolste Diktator der Welt«, binnen weniger Jahre in El Salvador geschaffen hat, ist der postdemokratische Prototyp eines neuen Herrschaftssystems. Und das ist alles andere als cool.
Tom-Oliver Regenauer | 06.06.2025
Sie teilen ihre Zelle mit über 100 Personen. Sie schlafen auf nacktem Metall oder Beton. Jedem von ihnen steht knapp ein halber Quadratmeter »Lebensraum« zur Verfügung. Befinden sie sich nicht in Einzelhaft, wo permanente Dunkelheit herrscht, wirft ihnen die grelle Neonbeleuchtung 24 Stunden am Tag ihr gleißendes Licht entgegen. Der karge Raum, in dem sie auf den Tod oder die Freiheit warten, verfügt über je zwei Waschbecken und Toiletten, auf denen sie ihre Notdurft vor den Augen der anderen verrichten. Wobei sich der Biorhythmus der Insassen ohnehin auf ein Minimum reduziert haben dürfte – denn Nahrung ist Mangelware. Bewegung ebenso. Einmal am Tag gibt es 450 Gramm der immer gleichen Pampe aus Bohnen, Pasta und Tortillas. Gegessen wird mit den Händen. Denn Besteck gibt es auch nicht. Gleiches gilt für ordentliche Gerichtsverfahren, Freigang, Umschluss, Privatsphäre, persönliche Gegenstände oder den Kontakt zu Familie und Anwälten. Oft ist die erste Nachricht, die Angehörige erhalten, auch die letzte. Denn gefoltert und gestorben – gerne auch durch beiläufiges Erdrosseln – wird in den Supermax-Gefängnissen deutlich öfter als kommuniziert. Die New York Times nennt Haftanstalten wie das im Januar 2023 eröffnete CECOT nicht umsonst »Todestrakt«.
Ich bezeichne dieses Gefängnis als Konzentrationslager. Alles andere ist beschönigend. Dabei ist das CECOT noch eine der besseren Adressen im Lande. Denn es ist eine der wenigen Einrichtungen in El Salvador, die noch nicht komplett überfüllt ist. So sagt schon das Justizvollzugssystem einiges über die »präsidentielle Republik«, die gezeichnet ist von Nayib Bukeles allgegenwärtigem »Kampf gegen den Terrorismus«. Den kennen wir ja bereits. Allerdings richtet sich dieser Kampf zwischenzeitlich nicht mehr gegen irgendwelche Extremisten in imaginären, nahöstlichen Bergfestungen, sondern vor allem gegen die eigene Bevölkerung. Gegen Kriminelle – und solche, die aufgrund entsprechend schwammig formulierter Legislatur kurzerhand dazu erklärt werden. Ein Modus Operandi, der im Schatten von »Migrationskrise« und postulierten »Gefahren für die Demokratie« auch in den USA und Europa an Traktion gewinnt.
El Salvador gewährt uns einen Blick in eine Zukunft, die in den USA bereits begonnen hat. Viele Menschen »verschwinden« einfach von der Straße. Ob sie im CECOT landen oder umgebracht werden, weiß niemand. Im Lichte der eingangs beschriebenen Haftbedingungen ist man jedoch versucht, ihnen Zweiteres zu wünschen. Denn eines stellte die Regierung Bukele schon beizeiten klar: Menschen, die in einem der neuen Gefängnisse landen, »werden diese nie wieder verlassen«.
Bukele, der 2019 erstmals zum Präsidenten gewählt und von der Washington Post am 5. Februar 2024 als »der coolste Diktator der Welt« beschrieben wurde, regiert mit eiserner Hand. Seit März 2022 gilt ein mit brachialer Gewalt durchgesetzter Ausnahmezustand, der Massenverhaftungen und Gerichtsverhandlungen für bis zu 900 Angeklagte gleichzeitig erlaubt. Gut zwei Prozent der einheimischen Bevölkerung sitzen mittlerweile hinter Schloss und Riegel – 1.659 Personen auf 100.000 Einwohner. Das sind prozentual betrachtet mehr als doppelt so viele Menschen wie im zweiten Land auf der entsprechenden Rangliste. Der von Bukele im Februar 2024 abermals erweiterte Ausnahmezustand gestattet der Regierung jetzt außerdem, Minderjährige in Gefängnisse für Erwachsene zu stecken. Über 3.000 solcher Fälle gibt es bereits.
Den immer rigoroseren Methoden der salvadorianischen Staatsmacht fallen aber nicht selten auch Ausländer zum Opfer. So wurden unter anderem zwei junge Kolumbianer inhaftiert, José Antonio Potes und Manuel Castrillón, die nach El Salvador gekommen waren, um in dem mit seiner neu gewonnen Sicherheit werbenden Land zu arbeiten. Die Armee nahm sie am Tag nach der Einreise unversehens beim Mittagessen fest. Die 200 US-Dollar, die sie bei sich trugen, hätten sie sicher beim Drogenhandel in Kolumbien verdient, so die Soldaten. Nach drei »höllischen« Monaten in Zellen mit bis zu 400 Häftlingen und einem Eimer als Toilette wurden die beiden wieder auf freien Fuß gesetzt, weil sich Potes’ Partnerin in der kolumbianischen Presse beharrlich um Öffentlichkeit für den Fall bemühte.
Weniger Glück hatte ein Fischer, der aufgrund eines anonymen Anrufs festgenommen und ein ganzes Jahr lang eingesperrt wurde. Oder auch eine lesbische Frau, die von der Armee zuhause abgeholt wurde, weil ein Taxifahrer, der ihre sexuelle Orientierung nicht mochte, sie denunzierte. Und das sind nur die Fälle, von denen wir etwas wissen. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein. Das impliziert unter anderem das salvadorianische Vorgehen im Bereich der Kriminalitätsstatistiken. So berichtete Foreign Policy am 8. August 2024, dass die salvadorianische Regierung die Mordraten seit Erklärung des Ausnahmezustands im Jahr 2022 massiv manipuliert: Nicht identifizierte Leichen, Tote in Massengräbern, Gefängnismorde und Exekutionen durch Bukeles Polizei- und Sicherheitskräfte werden nämlich nicht mehr als Mord gewertet und folglich auch in keiner Statistik abgebildet.
»Unter Bukeles Diktatur hat El Salvador selbst die Vereinigten Staaten als Weltmarktführer bei der Inhaftierung der eigenen Bevölkerung überholt«, so Wanda Bertram von der Prison Policy Initiative gegenüber MintPress News. »Bei all dem Horror, den das salvadorianische Masseninhaftierungsprogramm auslöst, sollte jedoch nicht übersehen werden, dass es seine Blaupause aus den USA hat«, wo fast die Hälfte aller Erwachsenen ein nahestehendes Familienmitglied im Gefängnis besuchen muss.
So nimmt es kaum Wunder, dass man in Washington sehr gut über die menschenrechtswidrigen Vorgänge in den Foltergefängnissen El Salvadors informiert ist. Ein Report des US-Außenministeriums aus dem Jahr 2023 erklärt diesbezüglich:
»Zu den wichtigen Menschenrechtsthemen gehörten (…) ungesetzliche oder willkürliche Tötungen, erzwungenes Verschwindenlassen, Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch Sicherheitskräfte, harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen, willkürliche Verhaftung oder Inhaftierung, schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz, willkürliche oder unrechtmäßige Eingriffe in die Privatsphäre, weit verbreitete geschlechtsspezifische Gewalt, einschließlich häuslicher und sexueller Gewalt und Femizid, erhebliche Hindernisse beim Zugang zu Diensten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, Menschenhandel, einschließlich Zwangsarbeit und Gewaltverbrechen gegen lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, queere oder intersexuelle Personen.«
»El Salvador ist kein Platz für Asylsuchende«, umschreibt die Nachrichtenseite NACLA die verheerenden Zustände am 24. April 2025. Es erscheint also nur folgerichtig, dass das US-Finanzministerium den Direktor des salvadorianischen Gefängnissystems, Osiris Luna, auf seine Sanktionsliste setzte und das US-Außenministerium ihn auf der Engel-Liste führt, »einer Liste von Personen, die sich in Guatemala, Honduras und El Salvador wissentlich an Handlungen beteiligt haben, die demokratische Prozesse oder Institutionen bedrohen, die an erheblicher Korruption beteiligt waren oder die Untersuchung solcher Korruptionshandlungen behindert haben«.
In Anbetracht des gut dokumentierten amerikanischen Wissensstands ist es umso verachtenswerter, wenn Kristi Noem, derzeitige Chefin von Homeland Security, dem US-Ministerium für innere Sicherheit, nach El Salvador reist, um am 26. März 2025 im CECOT vor einer überfüllten Zelle zu posieren und zu warnen, dass jeder der nächste sein könnte. Konkretisiert wurde Noems Drohung von Donald Trump, der am 14. April 2025 vor einem Treffen mit Bukele im Weißen Haus sagte, dass »die US-Regierung aktiv Optionen prüfe, um amerikanische Staatsbürger in die Gefängnisse von El Salvador zu schicken«.
»Die Gefängnisse El Salvadors sind das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit des US-Justizministeriums, der DEA und anderer Behörden, die in Lateinamerika Einfluss nahmen. Die USA haben den Aufbau dieser Gulags in Südamerika gefördert und begünstigt. So ist Bukele in vielerlei Hinsicht ein Monster, das in den USA geschaffen wurde. Die Kombination aus dem Import der US-Gefängnis- und Gangkultur mit von der US-Regierung finanzierter Digitalisierung, die in der salvadorianischen Politik eingesetzt wird, ist der Grund, warum Bukele jetzt so agiert«, so Roberto Lovato, der die Beziehungen zwischen El Salvador und Amerika in seinem Buch »Unforgetting« detailliert analysiert hat.
Bukele, den das TIME Magazine am 29. August 2024 als »die eiserne Hand, die El Salvador transformierte« beschrieb, als »wohl beliebtestes Staatsoberhaupt der Welt«, ist ein skrupelloser Diktator, der den Kampf gegen organisierte Kriminalität als Vorwand nutzt, um totalitäre Strukturen zum Normalzustand zu machen. Um Tech-Feudalismus zu etablieren. So passt es gut ins Bild, dass Bukele schon im Juni 2021 ankündigte, Bitcoin zu einem landesweit akzeptierten Zahlungsmittel machen zu wollen – und das entsprechende Gesetz nur fünf Tage später verabschiedet wurde. Angekündigt wurde damals auch ein staatliches Wallet namens »Chivo«, Slang für Cool. Es sollte mit 30 US-Dollar Startkapital bestückt und rasch ausgerollt werden. Und Ausländer, die drei Bitcoin in El Salvador investieren, stellte man die Staatsbürgerschaft in Aussicht.
Dass knapp zwei Drittel der salvadorianischen Bevölkerung angaben, Bitcoin gar nicht als Zahlungsmittel akzeptieren zu wollen, Moody’s die Kreditwürdigkeit des Landes herabstufte, eine Studie der Johns Hopkins University die Transaktionskosten für Bitcoin höher schätzte als bei traditionellen Zahlungsprozessen und der IWF Bukeles Pläne in einem Blog-Post als zu riskant abkanzelte, dämpfte den Schaffensdrang allerdings nachhaltig.
Das Ergebnis: Bitcoin wurde im September 2021 tatsächlich zum offiziellen Zahlungsmittel. Und auch das Chivo-Wallet wurde ausgerollt. Allerdings interessierte sich trotz der 30 Dollar Startkapital kaum jemand dafür. Nachdem der IWF außerdem eine pendente Zahlung an El Salvador in Höhe von 3,5 Milliarden US-Dollar einfror und deren Freigabe von Zugeständnissen in puncto Bitcoin abhängig machte, knickte Bukele im Dezember 2024 ein und verkündete, den Forderungen des IWF nachzugeben, Steuern weiterhin in US-Dollar einzutreiben und das ach so coole Wallet einzustellen oder zu verkaufen.
Dass sich Bukeles »eiserne Hand« keineswegs nur gegen kriminelle Banden, sondern vor allem auch Kritiker erhebt, verdeutlicht ein Beitrag des LAB (Latin America Bureau) vom 4. April 2025. Bezugnehmend auf Berichte von Amnesty International, CISPES (Committee in Solidarity with the People of El Salvador) und einen Artikel des Journalisten Carlos Martínez beschreibt LAB, wie Bürgerrechtsaktivisten aufgebracht, Familien enteignet, vertrieben und eingesperrt und Gewerkschaftsführer festgenommen werden, wenn sie Bukeles Regime kritisieren.
Wer nicht sofort eingelocht wird, wird überwacht. Ein Report des Citizen Lab zeigte schon 2022 auf, dass die Geräte dutzender Oppositioneller, Journalisten und Bürgerrechtsaktivisten mit Pegasus, der Spionagesoftware des israelischen Geheimdienst-Spin-offs NSO Group infiziert waren. Medien, die sich weigern, der Regierung nach dem Mund zu reden, müssen kostspielige Betriebsprüfungen über sich ergehen und – wie die kritische Tageszeitung El Faro – die Heimat verlassen, um überhaupt weiter arbeiten zu können.
Um Problemen mit der Judikative aus dem Weg zu gehen, die in derartigen Fällen unweigerlich hätte einschreiten müssen, lancierte Bukele 2021 einen Coup, im Zuge dessen der Generalstaatsanwalt entlassen und alle fünf Bundesrichter durch Gefolgsleute ersetzt wurden. Damit hatte er freie Hand. Danach entließ Bukele über 22.000 Staatsbedienstete, die meisten davon ohne Bezahlung. Bei einer Gesamtbevölkerung von gut sechs Millionen eine stolze Zahl. Wer protestierte, wurde festgenommen. Danach senkte er die Steuern für den wohlhabenden, Tech- und KI-affinen, für den ihm wohlgesonnenen Teil der Bevölkerung und lockte Unternehmen an, die nun riesige Data-Center und Technologieparks bauen. Mitglieder von Kommunalregierungen, die sich den geforderten Steuersenkungen widersetzten, wurden damit bedroht, als »Erpresser« eingestuft zu werden – was im Lichte des Ausnahmezustands de facto Inhaftierung bedeutet.
Bukeles Regimewechsel ist das perfekte Pilotprojekt für einen postdemokratischen Staat, der nach den Konzepten von Curtis Yarvins »Dunkler Aufklärung« operiert. Diktatur 2.0 – Tech-Feudalismus. Nachdem das Justizvollzugssystem mit Unterstützung aus den USA umgebaut, die Judikative gleichgeschaltet, Medien und Kritiker mundtot gemacht und die Exekutive mit israelischer Unterstützung aufgerüstet wurde, war der Weg frei, um in dem von Bukele gekaperten Land ein Herrschaftssystem zu etablieren, das nun auch in den USA Raum greift.
Entsprechend fruchtbar gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, seitdem dort die »Broligarchie« der PayPal-Mafia regiert. Kein Wunder, ist Elon Musk doch selbsterklärter Fan des »coolen Diktators«. Noch am 2. Januar 2025 postete Musk bei Twitter, dass dessen radikales Programm zur Bekämpfung von Bandenkriminalität auch »in den USA stattfinden wird und muss«. Eine Ansage, die auch nach Musks Rückzug jeden Amerikaner hellhörig machen sollte. Denn Curtis Yarvins »Dunkle Aufklärung« und Peter Thiels Palantir bleiben auch ohne Frontmann Musk die dominanten Kräfte in Washington.
»Wer in die Zukunft der USA sehen will, kann einen Blick auf die Geschichte El Salvadors werfen und einige der Entwicklungen erkennen, die jetzt auf Amerika zukommen. Und wir sollten Alarmstufe Rot ausrufen.« (Roberto Lovato)
Damit dürfte Lovato richtig liegen. Denn El Salvador ließ sich in Bezug auf sein Vollzugssystem nicht umsonst von den USA inspirieren. Im »Land of the Free« ist der »Prison-Industrial Complex« (PIC) – der Gefängnis-Industrie-Komplex – wohl jedem ein Begriff. Schließlich waren Häftlinge schon früher die einzigen Amerikaner, die nicht durch den 13. Zusatzartikel der US-Verfassung vor Versklavung und Zwangsarbeit geschützt waren. Dieser Tradition blieb man treu. Heute nehmen viele Inhaftierte an Arbeitsprogrammen teil, um Produkte für die Privatwirtschaft herzustellen oder Dienstleistungen für Unternehmen und Regierungsbehörden zu erbringen. Ein Papier des OxJournal kommentiert die Situation am 11. November 2024 mit den Worten:
»Der Gefängnis-Industrie-Komplex (PIC) beschreibt ein System, in dem staatliche und private Stellen, die am Gefängnisbetrieb beteiligt sind, zusammenarbeiten, um Inhaftierte zum persönlichen Vorteil auszubeuten. Das vorliegende Papier (…) verdeutlicht, dass der anhaltende Einsatz von Zwangsarbeit in Gefängnissen im Wesentlichen eine umdeklarierte Form von Sklaverei darstellt. Das Papier untersucht, wie die wirtschaftlichen Motive für Masseninhaftierungen dazu geführt haben, dass Profit gegenüber Rehabilitation priorisiert wird, was zu hohen Rückfallquoten und damit einem anhaltenden Kreislauf der Kriminalisierung führt. Schließlich beleuchtet das Papier die Vorenthaltung grundlegender Menschenrechte (…). Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass das PIC-System ungerecht und mit Rehabilitation und Menschenrechten unvereinbar ist. (…) Was wir dringend brauchen, ist eine Gefängnisreform, bei der Rehabilitation, Menschenwürde und die Abschaffung von Zwangsarbeit im Vordergrund stehen.«
Häftlinge, die weit unter Mindestlohn bezahlt werden, bauen heutzutage Möbel und Elektrogeräte, produzieren Kleidung, betreiben Telemarketing-Callcenter, nähen Uniformen für das US-Militär oder pflanzen und ernten Feldfrüchte. Nach Angaben des 2013 eingestellten Left Business Observer produzierte die Bundesgefängnisindustrie schon vor über zehn Jahren »100 Prozent aller Militärhelme, Munitionsgürtel, kugelsicheren Westen, Erkennungsmarken, Hemden, Hosen, Zelte, Taschen und Feldflaschen. Neben Kriegsmaterial decken Gefängnisarbeiter 98 Prozent des gesamten Marktes für Gerätemontage ab. 93 Prozent bei Farben und Pinseln, 92 Prozent in der Herdmontage, 46 Prozent bei Schutzwesten, 36 Prozent aller Haushaltsgeräte, 30 Prozent der Kopfhörer, Mikrofone und Lautsprecher und 21 Prozent der Büromöbel. Dazu Flugzeugteile, medizinisches Material und vieles mehr. Gefangene ziehen sogar Blindenhunde auf«.
Dabei verdienen die Häftlinge zwischen 90 Cent und vier Dollar pro Tag. Für die Konzerne ein lohnendes Geschäft. Ob Mc Donald’s, Sprint, Verizon, American Airlines, Walmart, Starbucks, Whole Foods (Amazon), Avis, IBM, Motorola, Compaq, Microsoft oder Honeywell – sie alle beschäftigen Gefangene, um Kosten zu senken. UNICOR – eigentlicher Name: Federal Prison Industries, Inc. (FPI) – ein 1934 vom Federal Bureau of Prisons gegründetes Arbeitsprogramm, managt 83 Fabriken und knapp 11.000 »Mitarbeiter«, die zwischen 23 Cent und 1,15 Dollar pro Stunde verdienen. Für diesen Stundenlohn produzierten sie im Jahr 2013 Militäruniformen im Wert von über 100 Millionen Dollar. Darüber hinaus vermietet UNICOR Arbeitskräfte an Rüstungskonzerne wie Raytheon, Northrop Grumman, Lockheed Martin, General Dynamics und Boeing.
»Die Gefängnispopulation der USA ist nicht nur die größte der Welt – sie wächst auch unaufhaltsam. Sie ist mehr als fünfmal so hoch wie vor 30 Jahren. 1980, als Ronald Reagan Präsident wurde, gab es in den USA 400.000 Häftlinge. Heute sind es über 2,3 Millionen. In Kalifornien stieg die Gefängnispopulation von 23.264 im Jahr 1980 auf 170.000 im Jahr 2010. Die Gefängnispopulation in Pennsylvania stieg im selben Zeitraum von 8.243 auf 51.487. Laut Rechtsprofessorin Michelle Alexander sitzen heute mehr afroamerikanische Männer in Gefängnissen oder sind auf Bewährung als 1850, vor Beginn des Bürgerkriegs, versklavt waren. Heute lebt in den USA erschreckenderweise jeder 100. Erwachsene hinter Gittern.« (Workers World, 6. Juni 2011)
Dabei ist zu bedenken, dass die Gewaltkriminalitätsrate in den USA seit 1991 um circa 20 Prozent gesunken ist, während die Zahl der Inhaftierten im gleichen Zeitraum um über 50 Prozent zunahm. Nachdem Barack Obama die Zahl der Privatgefängnisse im Jahr 2016 reduzieren wollte, brauchte die erste Trump-Regierung nur einen Monat, um den entsprechenden Beschluss rückgängig zu machen und damit die Aktienkurse von privaten Gefängnisbetreibern wie CoreVic und GEO Group zu verdoppeln.
Wenn selbst der Speiseeishersteller Ben & Jerry’s am 16. April 2021 auf seiner Homepage einen ausführlichen Artikel über das korporatistische Vollzugssystem und die Ausbeutung von Häftlingen publiziert und im Zuge des Textes die »Zerlegung des Prison Industrial Complex« fordert, sollte das zu denken geben.
Ende 2019 saßen 2.068.880 Personen in US-Gefängnissen. Das ist der niedrigste Wert seit 2003. Die Gründe für diesen kurzzeitigen Rückgang zu eruieren, würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. Zudem dürfte der leichte Knick in der ansonsten konstant nach oben verlaufenden Kurve kaum relevant sein. Denn der PIC floriert. Im ganzen Land sollen neue Supermax-Gefängnisse entstehen. Der Bundesstaat Alabama kündigte im September 2023 an, eine neue Haftanstalt mit 4.000 Betten für 1,08 Milliarden Dollar hochziehen zu wollen. Nebraska baut ebenfalls, für 1.500 Häftlinge und 350 Millionen. In Georgia nimmt man 1,7 Milliarden in die Hand, um nach Abschluss der Bauarbeiten 4.500 Personen einsperren zu können. New York will mit 92-Meter-Mauern das höchste Gefängnis der Welt in Chinatown errichten. Weitere Projekte dieser Art für Kentucky, New Jersey, Texas, South Dakota, Illinois und Indiana wurden im Dezember 2024 angekündigt. Man schafft also offenbar Kapazitäten.
Fragt sich: Für was? Das Gerichtsverfahren State vs. Miles in New Jersey könnte Hinweise geben. Reclaim The Net kommentierte den Prozess am 3. Juni 2025 unter dem Titel »Schuldig per Algorithmus« wie folgt:
»In der neuesten Farce des Staates (…) wird Tybear Miles des Mordes an Ahmad McPherson im Jahr 2021 angeklagt. Das zentrale Beweisstück? Keine Fingerabdrücke. Kein Augenzeuge. Ein Gesichtserkennungstreffer durch ein System, das so geheim ist, dass die Regierung der Verteidigung nicht einmal verrät, was es ist, wie es funktioniert oder ob es genauer ist als ein betrunkener Dart-Wurf. Die Staatsanwaltschaft besteht darauf, Miles überführt zu haben. Dank eines Informanten, der behauptete, Miles sei der Mörder. Die Polizisten durchsuchten daraufhin Instagram, zogen ein paar Fotos, speisten sie in ein Gesichtserkennungssystem – und das schlug Tybear Miles vor. Der Algorithmus gab seinen Segen, der Informant nickte zustimmend und der Fall war abgeschlossen. Es gibt nur einen Haken: Die Verteidigung will sehen, wie der Entscheid zustande kam. Verständlich. Denn eine Gefängnisstrafe aufgrund der vagen Ahnung einer Software ist nicht gerade Goldstandard für ein faires Verfahren. Die Verteidiger forderten Zugang zum Kern des Systems, Fehlerraten, Datenbankqualität, Testprotokolle – alles, was den Unterschied zwischen Wissenschaft und Quacksalberei aufzeigen könnte. Die Antwort des Staates? Ein klares: Nein!«
Auch ein Blick gen Großbritannien könnte verraten, warum der Staat Gefängniskapazitäten vorhalten will. Immerhin verhaftete die britische Polizei bereits im Jahr 2023 stolze 12.183 Personen wegen »anrüchiger« Social Media Beiträge. The Telegraph berichtete am 4. April 2025 beispielsweise von Lucy Connolly, die wegen eines Tweets ganze 31 Monate in Haft saß und ihre Tochter monatelang nicht sehen durfte. Was Deutschland und die EU mit »Hate Speech-Meldestellen« erst professionalisieren, endet in Großbritannien schon jetzt nicht selten hinter Gittern. Nachdem das verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung überhaupt erst 1998 Einzug in die britische Gesetzgebung fand, wird es jetzt schon wieder abgeschafft. Passend dazu plant das Königreich, im Rahmen einer »zehnjährigen Kapazitätsstrategie« 14.000 neue Gefängnisplätze zu schaffen. Im Mai 2025 kündigte die zuständige Justizministerin an, noch dieses Jahr 4,7 Milliarden Pfund in drei neue Haftanstalten zu investieren, um den Bedürfnissen des Strafvollzugs mittels »Rekord-Expansion« gerecht zu werden.
Auch in der Schweiz, Frankreich und Deutschland schafft man zusätzliche Kapazitäten. Rottweil, Berlin, ein »Großgefängnis« für Sachsen und Thüringen in Zwickau, Münster, Halle (Saale), ein »Mega-Knast« in Passau, Marktredwitz oder ein »Mega-Gefängnis« in Wittlich – überall wird gebaut und erweitert. Die Baubranche freut sich.
Und das aus guten Gründen. Denn auch die seit Jahren laufende Diskussion um eine Privatisierung des deutschen Strafvollzugs entwickelt sich zu Gunsten potenzieller Profiteure. Diskutierte man im Jahr 2000 noch die grundsätzlichen rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Privatisierung, evaluierte das JuraMagazin im Jahr 2020 bereits Vergabeprozesse, Investorenmodelle und Unterhaltsfragen. Die Frankfurter Rundschau stellte am 18. Januar 2019 fest, dass »das staatliche Gewaltmonopol wankt« und wir einer »gefährlichen Entwicklung« entgegensehen, »wonach billig in jedem Falle besser ist und Gewinnerwartung keine Hemmschwelle kennt«.
Wenig überraschend also, dass im hessischen Hünfeld schon 2005 die erste teilprivatisierte Haftanstalt eröffnet wurde. Und auch die 2009 in Betrieb genommene JVA Burg bei Magdeburg wird als öffentlich-rechtliche Partnerschaft geführt – als »Public Private Partnership« (PPP).
»Das hessische Modellprojekt: Nach Angaben des damaligen hessischen Justizministers Christean Wagner hätten die Erfahrungen in England, Frankreich und den USA gezeigt, dass (teil-)privatisierte Gefängnisse kostengünstiger und effektiver seien. Deshalb wurde schon im Koalitionsvertrag der damaligen hessischen Regierungsparteien CDU und FDP im Frühjahr 1999 beschlossen, dass Planung, Bau und Betrieb eines neu zu bauenden Gefängnisses so weit wie rechtlich möglich in private Hände übertragen werden sollten. Auf dieser Basis hat das hessische Justizministerium eine Arbeitsgruppe eingesetzt, welche die rechtlichen Rahmenbedingungen für ein solches Modellprojekt erarbeiten sollte. Die Arbeitsgruppe kam zu dem Schluss, dass eine Privatisierung des Strafvollzugs als Ganzes in Deutschland unzulässig sei, da der Strafvollzug zum Kernbereich staatlicher Aufgabenerfüllung gehöre und als solcher im Hinblick auf Art. 33 Absatz 4 Grundgesetz nicht privatisierungsfähig sei. Innerhalb des Strafvollzugs wurde es jedoch für möglich erachtet, bestimmte Teilbereiche im Rahmen einer Public Private Partnership zu privatisieren.«
Diese »Teilbereiche« umfassen dank »Outsourcing« praktisch den gesamten Vollzug. Was nicht passt, wird passend gemacht – Gesetze sind ja immer eine Frage der Auslegung. Diesem Credo folgend zeigen auch in der Schweiz Pensionskassen, Sicherheitsunternehmen, Baubranche und Politik seit Jahren reges Interesse an einer Privatisierung des Gefängnisbetriebs – stoßen dabei allerdings (noch) auf Widerstand aus Reihen der Justiz. Das Personal in eidgenössischen Justizvollzugsanstalten stellen allerdings schon jetzt teilweise private Sicherheitsfirmen.
Vergleichbare Entwicklungen gibt es in Frankreich, Spanien, Italien, Belgien und Schweden. Ein Workshop-Dossier der PSIRU (Public Services International Research Unit) aus dem Jahr 2005 mit dem Titel »Der europäische Markt für privatisierte Justizvollzugsanstalten« weist aus, dass das globale Marktvolumen im Bereich Strafvollzug schon 2004 mit 424 Milliarden US-Dollar veranschlagt wurde. Ein »riesiges ungenutztes Potenzial für den privaten Sektor«, so der Autor des Dossiers. Entsprechend zuversichtlich klingt sein 20 Jahre altes Papier in Bezug auf die Marktentwicklung für international agierende Gefängnisbetreiber. Aus gutem Grund. Kostet so ein moderner Knast doch heutzutage gerne mal über eine Milliarde. Den gleichen Betrag zahlt die Trump-Regierung auch für einen im Februar 2025 unterzeichneten 15-Jahresvertrag mit der GEO Group, die in den USA 22.000 Mitarbeiter beschäftigt und einen Jahresumsatz von 2,33 Milliarden Dollar verbucht. George Zoley, Gründer und Chef der GEO Group, erwartet, dass die Erhöhung der Bettenzahl von 15.000 auf 32.000 »zwischen 500 und 600 Millionen an inkrementellen, annualisierten Einnahmen generieren könnte«. Und dieser Milliarden-Vertrag betrifft nur einen einzigen Standort in New Jersey.
Neben der klassischen Haftanstalt bietet die GEO Group mittlerweile auch zeitgemäße Instrumente der Massenüberwachung an. Wer nicht gleich ins Gefängnis muss, wird elektronisch überwacht. Per Fußfessel.
Das »ist eine Alternative zur Inhaftierung und ermöglicht die elektronische Überwachung eines Einwanderers während der Wartezeit auf ein Gerichtsverfahren. Das wichtigste ICE-Programm, das eine Alternative zur Inhaftierung darstellt, ist das Intensive Supervision Appearance Program (ISAP). Derzeit sind rund 184.000 Menschen im ISAP-Programm, doch Zoley erklärte gegenüber Investoren, dass sich die Zahl der Teilnehmer dieses Programms wegen der Fokussierung der Trump-Regierung auf die Durchsetzung der Einwanderungsgesetze im Land leicht verdoppeln könnte. Er sagte, die Rückkehr zu über 300.000 im ISAP überwachten Personen könnte Einnahmen von rund 250 Millionen US-Dollar bringen.« (Nevada Current, 27.02.2025)
So entwickelt sich im Zuge einer vermeintlich konservativ-liberalen Kehrtwende nicht nur die »neofaschistische« Technokratie mit Totalüberwachung der Marke Palantir zu einem Exportschlager der USA, sondern auch das Supermax-Gefängnis mit Gewinnerwartung. In Deutschland stehen der wirtschaftlichen Blüte dieses Modells zwar noch ein paar formaljuristische Hürden im Weg – aber wie gesagt – Gesetze sind Auslegungssache. Flankiert von zunehmend totalitären Strukturen und freiheitsfeindlicher Legislatur sieht der in schleichender Privatisierung begriffene und international expandierende Gefängnis-Industrie-Komplex jedenfalls rosigen Zeiten entgegen. In den USA, in Europa – und im Rest der Welt.
Wenn Algorithmen die Beweisführung übernehmen, Social Media Posts als Gewaltverbrechen gelten, Journalisten vom Verfassungsschutz beobachtet, immer mehr Meldestellen – treffender: Denunziationsbüros – eingerichtet und »Vergehen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle« von zentraler Stelle dokumentiert werden, sind Unverhältnismäßigkeiten längst an der Tagesordnung – und die massive Zunahme von Inhaftierungen nur der nächste logische Schritt.
Denn »Märkte lieben totalitäre Regierungen«. (Larry Fink, CEO BlackRock)
Bild: Netzfund



