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Technokratie auf der Spur (Teil 2)
Im ersten Gespräch der jüngeren Vergangenheit mit Vertretern der Technocracy Inc., namentlich Justin Lazarra, amtierender Präsident, und Charmie Gilcrease, ehemalige Archivarin, analysiert der Journalist Tom-Oliver Regenauer die Kernziele eines knapp 100 Jahre alten Konzepts, das uns heute, in Zeiten »künstlicher Intelligenz«, als elementarer Baustein supranationaler Machtergreifung begegnet.
Folgend die transkribierte Übersetzung des zweiten Gesprächs, das am 12. Februar 2023 aufgezeichnet, bislang aber nicht veröffentlicht wurde. Das zugehörige Video erscheint im Lauf der nächsten Tage bei Manova.
Tom-Oliver Regenauer | 19.04.2025
Einleitung (analog zu Teil 1)
Die bedeutendste Organisation unserer Zeit verfügt weder über Mittel noch Personal. Selbst für ein Update der eigenen Webseite scheint das Geld zu fehlen. Trotzdem hat sie mehr Einfluss auf den Lauf der Welt als UN, WEF, GAVI, die US-Regierung oder die Philanthropie-Vehikel der »Superclass« (D. Rothkopf, 2008). Denn die Konzepte, die sie vertritt, sind integraler Bestandteil eines jeden Projekts, jeder Agenda, jeder technischen, ökonomischen, sozialen und legislativen Entwicklung unserer Zeit.
Gemeint ist die Technocracy Inc. – eine Bewegung, die 1919 in New York City mit der »Technical Alliance« ihren Anfang nahm und dank der Umtriebe des zwielichtigen Howard Scott ab 1933 landesweit für Aufsehen sorgte. In der Hochphase waren über eine halbe Million Mitglieder in landesweiten Ortsgruppen organisiert, man publizierte ein eigenes Magazin namens »The Technocrat« und machte durch scheinbar progressive Ideen von sich Reden. So interessierten sich bald auch Oligarchen wie die Rockefellers für Scotts technisch noch nicht weiträumig realisierbare Konzepte – denn sie versprachen in finaler Ausprägung ein Herrschaftsmodell zentralisierter Monopole, das Wirtschaft und Gesellschaft abseits zeitaufwändiger demokratischer Prozesse mit Automatismen dominiert. Eine »bedarfsorientierte« Herrschaft der Maschinen.
Nicht umsonst bezeichnete selbst eine Mainstream-Publikation wie The New Yorker die Organisation in einem Artikel vom 19. September 2023 als »quasi-faschistische« Bewegung und wies darauf hin, dass auch der Großvater von Elon Musk, der Technokratie seit Jahren selbst als perfektes Gesellschaftsmodell preist, eine führende Rolle bei der Technocracy Inc. innehatte.
Was in den 1930er Jahren noch nach Zukunftsmusik klang, weil Speicherkapazitäten, Rechenleistung und Übertragungsraten Scotts Konzepten damals nicht gerecht wurden, ist heute bittere Realität. Von der QR-Code-gesteuerten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben während der Corona-Krise über die eID und digitale Zahlungssysteme bis hin zum per Smartphone ermittelten CO2-Fußabdruck, der in naher Zukunft die Individualmobilität steuern wird – jetzt funktioniert Technokratie. Und sie greift Raum. Rasant. Weltweit.
Vor diesem Hintergrund habe ich am 5. Juni 2022 meinen Artikel »Ideologie der Zeitenwende« veröffentlicht, der sich sehr kritisch mit der Geschichte und den Konzepten der Technokratie-Bewegung sowie deren Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft beschäftigt.
Umso erstaunter war ich, als besagter Text am 5. November 2022 in englischer Sprache auf der offiziellen Webseite der Technocracy Inc. erschien, die ich zufällig aufrief, um ein Dokument von Howard Scott zu suchen. Ich nahm Kontakt zu den Betreibern der Seite auf und fragte, warum mein Text dort publiziert wurde – und ob Vertreter der Bewegung bereit wären, vor der Kamera über meine Ausführungen zu sprechen. Zu meiner Überraschung waren sie es.
So kam es am 16. Januar 2023 zu einem weltweit einmaligen Gespräch. Denn in jüngerer Vergangenheit sprachen Autoren, Journalisten und Podcaster häufig über die Technocracy Inc., aber nie mit Vertretern dieser Bewegung. Ein Fehler. Denn das Ergebnis der Kontaktaufnahme ist eine respektvolle, offene und bereichernde Konversation, die verdeutlicht, dass deren Teilnehmer in der Analyse des Ist-Zustandes weithin konform gehen: Das herrschende System des hegemonialen Krisen- und Überwachungskorporatismus – der »Corporate States of America« – ist von Grund auf korrupt und muss ersetzt werden.
Sobald es jedoch um Lösungen und den Soll-Zustand geht, wird klar, dass Jill Lepore vom New Yorker mit ihrer Einschätzung vom September 2023 richtig lag. Lediglich das »quasi« sollte sie vielleicht noch streichen.
Gespräch
Tom: Sehr geehrte Damen und Herren. Mein Name ist Tom-Oliver Regenauer. Heute, am 12. Februar 2023, treffe ich mich zum zweiten Mal mit der Technocracy Inc. aus den USA – namentlich mit Charmie Gilcrease und Justin Lazarra – um die Konversation, die wir vor knapp vier Wochen begonnen haben, fortzusetzen. Weil wir uns damals einig waren, dass wir manch ein Themengebiet nicht ausführlich genug besprechen konnten, haben wir uns darauf verständigt, uns erneut zu verabreden. Und genau das tun wir heute. Daher: Herzlich willkommen zur heutigen Ausgabe und Konversation. Um loszulegen, möchte ich eine Frage stellen, die ich letztes Mal vergessen habe: Wie seid ihr beiden überhaupt zur Technocracy Inc. gekommen? Was waren eure ersten persönlichen Berührungspunkte mit dem Konzept? Andere Leute werden Mitglied in Parteien – oder gründen eine Band. Oder unterstützen den World Wildlife Fund. Es gibt ja alle möglichen Betätigungsfelder. Wie also seid ihr gerade zur Technokratie gekommen und was machte das Konzept für euch attraktiv? Vielleicht könnte ihr das kurz beschreiben und den Zuschauern einen Eindruck davon vermitteln, was euch an der Technokratiebewegung interessierte und zum Mitmachen inspirierte.
Charmie: Sicher. Ich habe mich einfach auf eine Stellenanzeige als Buchhalterin beworben und den Job bekommen. Der damalige Geschäftsführer der Technocracy Inc., George Wright, ließ mir in der Folge eine Menge an Informationen zur Technokratiebewegung zukommen – und meine erste Reaktion war die gleiche, wie bei vielen anderen Menschen: Ach – das ist doch Kommunismus. Das ist Sozialismus. Das war zunächst einmal eher abschreckend. Aber je mehr ich recherchierte und den Mitgliedern zuhörte, umso intensiver ich mich mit den tatsächlichen Inhalten, anstelle medialer Trugbilder beschäftigte, desto interessanter wurde es. Das Konzept erschien mir wirklich Sinn zu machen.
Tom: Dann war es also eher Zufall?
Charmie: Ja, absoluter Zufall.
Tom: Interessant. Und bei Dir, Justin?
Justin: Musik. Hast du mal von der Band »Type O Negative« gehört?
Tom: Ja, habe ich. Der Name kommt mir bekannt vor. Ich könnte jetzt kein Album damit assoziieren, aber den Namen habe ich schon gehört.
Justin: Von denen gibt es ein Album namens »October Rust«. Und einer der Songs darauf handelt von Technokratie. Ich habe das gelesen und mich gefragt, was das sein soll. Dann habe ich den Begriff im Wörterbuch nachgeschlagen und bin immer öfter in Comics oder Büchern darüber gestolpert. Am Ende führte mich meine Recherche zur Organisation selbst. Aber es begann alles mit »Type O Negative« – was eigentlich ziemlich lustig ist, wenn man deren Musik kennt.
Tom: Ja, allerdings. Witzig, dass du den Begriff in einem Songtext entdeckt hast und schlussendlich wirklich Mitglied dieser Organisation wurdest. Ein ungewöhnlicher Weg.
Justin: Ja.
Tom: Danke für die Informationen. Letztes Mal haben wir ja über die Geschichte der Bewegung gesprochen – und jedem, der die erste Folge nicht gesehen hat, empfehle ich, das vor dem Anschauen der zweiten nachzuholen – aber auf Details der Geschichte und die Ausbreitung von Technokratie in den USA und anderen Ländern sind wir nicht detailliert eingegangen. Genau dazu habe ich in der Vergangenheit aber viel recherchiert. Wir haben besprochen, dass es 1917 mit der Technical Alliance begann und sich in den 1930ern zur Technocracy Inc. entwickelte. Wir haben die ursprünglichen Konzepte diskutiert. Worauf ich dieses Mal aber noch weiter eingehen wollte, ist die Ausbreitung nach China. Denn im Lichte meiner Recherchen und der verfügbaren Informationen sieht es so aus, als hätten vor allem reiche Amerikaner so viel Gefallen an dem Konzept gefunden, dass sie es dann auch wirklich umsetzen wollten. Dazu benötigten sie eine Test-Umgebung, in der IT würde man »Sandbox« sagen, in der man Dinge entwickeln und ausprobieren konnte, um zu sehen, wie sie funktionieren. Schaut man sich die Geschichte an, zeigt sich, dass es Leute wie Richard Nixon und Henry Kissinger waren, die in den 1970ern nach China gingen, um mit Mao zu kollaborieren. Obwohl der Handel mit China zum damaligen Zeitpunkt noch illegal war, investierten sie dort (im Auftrag von David Rockefeller et al.). Es gibt eine Menge Zeitungsartikel aus dieser Zeit. Die Washington Post oder auch die New York Times berichteten damals über die Technologietransfers nach China – weil es eben noch illegal war. Was ich also besser verstehen will, und das wäre dann auch meine Frage, ist, ob ich richtig liege, wenn ich überzeugt bin, dass Menschen wie David Rockefeller, der als vermeintlicher Philanthrop in alle möglichen Dinge investierte und nicht nur mit seinen NGOs oder dem Council on Foreign Relations, sondern auch mit seinem direkten Draht zur US-Außenpolitik (via Kissinger) Einfluss auf geostrategische Entwicklungen nehmen konnte, nach China gingen, um Mao das Konzept Technokratie schmackhaft zu machen. Meine These ist, dass Leute wie Kissinger und Brzeziński, die enge Beziehungen zu Mao pflegten, dort ein Testgelände schufen, um ein Pilotprojekt aufzusetzen. Ist das eine korrekte Einschätzung? Ihr habt ja bestätigt, dass China eine Technokratie ist. Aber wie wurde das Modell dort bekannt und installiert? Könnt ihr vielleicht eure Sichtweise dazu ein bisschen erläutern?
Charmie: Ich möchte dazu nur kurz einwerfen – und das habe ich dir ja auch geschrieben – dass Menschen jedwede Idee aufgreifen und zu ihren eigenen Zwecken nutzen können. Und was ich in China und anderen Ländern sehe, entspricht nicht der eigentlichen Theorie, wie sie die Technocracy Inc. verstand. Die ursprüngliche Idee wurde korrumpiert. Das wollte ich einfach noch mal festhalten.
Tom: Klar, kein Problem. Diesen Punkt hast du ja letztes Mal schon gemacht. Ich sage ja auch nicht, dass in China das Modell operativ ist, für das sich Howard Scott oder die ursprüngliche Technokratiebewegung engagierte. Nichtsdestotrotz herrscht in China Technokratie. Auch wenn es in weiten Teilen eine pervertierte Version davon sein sollte. Was ich wissen möchte, ist, ob ihr auch denkt, dass es hochrangige US-Oligarchen waren, die das Modell seinerzeit politisch interessant machten, um so eine »Sandbox« in China einrichten zu können.
Justin: Ich glaube nicht, dass es so lief. Die genannten Kreise stießen wahrscheinlich von selbst auf die Idee. Im Rahmen ihrer Ausbildung. Und dann entschieden sie sich dafür, eigene Ingenieure und Wissenschaftler zu unterstützen. Wenn es so etwas wie einen Staatsrat (China) gibt, auf welcher Grundlage sollten sie dann konkurrieren? Wettbewerb basiert auf Bildung und Leistung. Ich denke, im kommunistischen China wurde Bildung zu einem natürlichen Hebel, um mit anderen Parteimitgliedern zu konkurrieren. Denn es geht nicht um Wählerstimmen, sondern um Leistung und Bildung. So ist es auch logisch, dass Menschen, die im Ingenieurwesen oder der Wissenschaft reüssierten, Ansehen, Kredibilität und Wissen optimieren konnten. Im Gegensatz zu einem Konkurrenten, der Wirtschaft oder Geisteswissenschaften studiert hat, werden solche Personen als bessere Organisatoren, Führungspersönlichkeiten oder Techniker für die Führung eines Staates wahrgenommen. Ich denke, dieser Umstand ist eine Folge chinesischer Innenpolitik – und wahrscheinlicher als die These, dass jemand aus dem Westen anreiste, um Technokratie als großartige Idee zu verkaufen. Ich glaube nicht an diese Theorie. Ich denke, es war eher ein Nebenprodukt des Systems. Betrachtet man die Entwicklung Südkoreas nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde das Land damals hauptsächlich von Ingenieuren geführt und verwaltet. Einer der ersten Führer Südkoreas war Ingenieur – und er bevorzugte die Einstellung und Beförderung von Ingenieuren für die Besetzung von ihm unterstellten Führungsrollen. In meinen Augen lief das in China so ähnlich. Unbeabsichtigt. Es passierte einfach. Aufgrund einer anderen Denkweise. Wir im Westen legen großen Wert auf Demokratie – und es ist ein bisschen wie bei einem Beliebtheitswettbewerb, wo bestimmte Kandidaten eine solche Wirkung auf Menschen haben, dass diese auf die Straße gehen und sie unterstützen. Im kommunistischen China ist ein Großteil der politischen Prahlerei dermaßen aufgesetzt und inszeniert, dass sie die Leute nicht abholt. Ein paar sind sicher auch dort begeistert von dem Spektakel, aber nicht in dem Ausmaß wie in demokratischen Ländern, wo Menschen das Gefühl haben, dass ihre Stimme einen direkteren Einfluss auf das Geschehen hat. Daher denke ich nicht, dass es einen direkten Bezug zu US-Oligarchen gibt, die Technokratie als Modell vorschlugen. Ein weiterer Punkt ist aber, dass die meisten der chinesischen Ingenieure und Wissenschaftler im Westen ausgebildet wurden. Die wurden zum Studium in die USA und nach Europa geschickt, lernten dort westliche Ideen und brachten diese dann in ihr Land zurück, wo sie nach Belieben umgesetzt wurden. Man greift Ideen in anderen Ländern auf und führt sie ein. So verbreiteten sich einst Kommunismus und Faschismus weltweit über Universitäten und unter Menschen, die reisten, um die Lage in anderen Ländern zu beobachten. So war es wohl auch mit Technokratie. Die kamen hierher, bildeten sich weiter, lasen darüber oder stießen auf einem Universitätscampus darauf und gingen dann zurück nach China. Wäre man damals nach Amerika gekommen, um sich als Wissenschaftler oder Ingenieur ausbilden zu lassen, wäre man ganz sicher auf jemanden aus der Technokratiebewegung gestoßen und damit in Berührung gekommen. Ich glaube jedoch nicht, dass es eine direkte, vorsätzliche Einflussnahme seitens der von dir genannten Kreise gab, die versuchten, den Chinesen diese Ideen aufzudrängen. Ich denke, Nixons Besuch zielte darauf ab, Abhängigkeiten zwischen China und den USA zu schaffen, um China zu zwingen, eine Demokratie zu werden. Ich denke, das war der Grund für seinen Besuch bei Mao.
Tom: Den Einwand bezüglich interner Entwicklungsprozesse und der chinesischen Gesellschaft kann ich nachvollziehen. Dass es einen großen Unterschied zwischen dem Wettbewerbsmodell im Westen und dem kommunistischen Modell Chinas gibt, ebenfalls. Ich sage auch nicht, dass Nixon und Kissinger mit Scotts Buch unter dem Arm anreisten und Mao erklärten: Das ist das Buch zum Thema Technokratie, lass uns das hier einführen! Das wäre ziemlich naiv. Aber während meiner Recherchen stellte ich zum Beispiel fest, dass die Rockefeller Foundation ihre erste Schule in China bereits 1917 gründete. Und später, das lässt sich einem Archiv-Artikel der Yale-Universität entnehmen, finanzierte Yale Maos ersten Buchladen. Zudem ernannte Yale in China ihn zum Chefredakteur der hauseigenen Stundenzeitung, die er – Zitat – zur »Gedankenreorientierung« nutzen wollte. Es gab also ganz offensichtlich Unterstützung aus den USA. Speziell seitens Yale, wie man besagtem Artikel der Yale Daily News von 5. Mai 1967 entnehmen kann. Und die Rockefeller Foundation war offen für jegliche Art von Investition in China – zu einer Zeit, als das für den Rest der Vereinigten Staaten noch keineswegs gängig, beziehungsweise völlig tabu war. Deshalb ist meine Hypothese, dass Kissinger, der den Großbanken sehr nahe stand, Technokratie als Herrschaftsmodell in den Raum stellte. Vielleicht nicht unbedingt mit Scotts Buch unter dem Arm, aber mit Zusagen für US-Investitionen in verschiedenste Branchen. Wie man anderen Zeitungsartikeln entnehmen kann, flossen damals Milliarden an illegalen Geldern nach China, um Infrastruktur aufzubauen. Auf Basis meiner Recherchen gehe ich daher davon aus, dass es sich bei diesem Prozess nicht um die Implementierung von Howard Scotts Grundkonzept handelte, sondern davon, dass einflussreiche Kreise in den USA ein Interesse daran hatten, ein China aufzubauen, dass ihnen als neuer Markt dient – ein Markt, auf den man direkten Zugriff hat. Ich bezweifle, dass die nur die Absicht hatten, aus China eine Demokratie zu machen. Für mich macht es eher den Eindruck, als wollte man China öffnen, um Geld zu verdienen – während man parallel untersuchen wollte, wie sich Digitalisierung und technokratischer Ansatz in einer isolierten Gesellschaft entwickeln.
Justin: Ich vertrete die Ansicht, dass sie versuchten, kapitalistische Ideen in einem Land zu verbreiten, das aufgrund des Sowjetsystems bereits technokratisch geprägt war. Das Sowjetsystem war ein zentralisiertes Planungssystem. Die späteren Reformen führten zwar zu einer Dezentralisierung, aber damals war es ein zentralisiertes System, das somit auch bereits technokratische Charakteristika aufwies. Das Modell war in meinen Augen also bereits vorhanden. Ich denke nicht, dass es den Chinesen erst vorgestellt werden musste. Wenn man an die Ursprünge der Technocracy Inc. in den 1920ern denkt, muss man berücksichtigen, dass es damals eine Konferenz zwischen Sowjets und Technokraten gab, auf der über zentralisierte Planungsansätze gesprochen wurde. Daher denke ich …
Tom: Okay. Darf ich kurz unterbrechen? Von dieser Konferenz wusste ich nichts. Wo fand die statt? Das ist neu für mich.
Justin: Sogar Patrick Wood hat diese Konferenz im Rahmen seiner »großartigen« Recherchen erwähnt. Ein Event, das vor sehr langer Zeit stattfand. Ich konnte die Details später aber nicht mehr in meinen E-Mails finden.
Tom: Verstehe. Ich dachte, du wüsstest das vielleicht noch auswendig.
Justin: Nein. Nicht aus dem Gedächtnis. Namen und Daten kann ich mir nicht gut merken. Aber die Konferenz fand statt – während die Technokratiebewegung noch in den Kinderschuhen steckte. Und wenn ich mich recht erinnere, wurde der Organisator später sogar von Stalin umgebracht, weil dieser ihn wohl als Konkurrent betrachtete. Es gab also eine Zeit, in der die beiden Systeme in einem gewissen Austausch standen – während sie allerdings beide noch in den Kinderschuhen steckten. Obwohl der Kommunismus in Russland damals noch nicht vorherrschend war und die Technokratiebewegung in den USA noch gar nicht richtig Fuß gefasst hatte, strebte die Technical Alliance ein Bündnis an. Zu dieser Zeit entwickelte die Alliance ja noch das Grundkonzept. Es gab aber einen Austausch. Denn man hatte ähnliche Vorstellungen von zentralisierter Planung, aber eben auch sehr unterschiedliche Ansichten bezüglich deren Umsetzung. Und genau da gehen die Konzepte auseinander. Deshalb stellte man die Zusammenarbeit ein und es kam nicht zur Gründung eines Bündnisses. Man schätzte die Konzepte des Gegenübers, konnte die unüberbrückbaren Differenzen aber nicht ausräumen. Man trennte sich einvernehmlich. Ich denke aber, dass eine Vielzahl der technokratischen Impulse, die China formten, von der ursprünglichen Form des Kommunismus herrühren, an dem die Chinesen viel länger festhielten als die Russen. Selbst als man in China merkte, dass Russland damit scheiterte, hielt man daran fest – bis man schließlich entschied, auf Henry Kissinger und Nixon zu hören und kapitalistische Ideen im System zu integrieren. Um nicht unterzugehen wie die Russen. Und genau darum denke ich ging es bei deren Austausch: China den Kapitalismus schmackhaft zu machen, nicht die Technokratie. Ich habe viel von Patrick Woods Ausführungen zur Trilateralen Kommission gehört. Er vertritt die These, dass diese Gruppe versucht hat, China zur einer Technokratie zu machen. Mein Gefühl ist, dass Patrick Wood eine wertvolle Buchreihe über die Trilaterale Kommission geschrieben hat – als sich die Bücher aber nicht verkauften, reicherte es sie mit einem neuen Schlagwort an: Technokratie. Das half, seine Ideen wiederzubeleben und einer neuen Generation nahezubringen. Betrachtet man Patrick Woods Material, gibt es da eine große Lücke, eine große Diskrepanz zwischen seinen Theorien zur Technokratiebewegung und seinen Recherchen zur Trilateralen Kommission. Ich denke, er hat einfach zwei unterschiedliche Dinge miteinander kombiniert, um Bücher zu verkaufen. Denn es gibt schlichtweg keine eindeutige Verbindung zwischen den beiden Gruppen. Deshalb finde ich, dass seine Thesen nicht belastbar sind. Ja, es gibt wirklich so etwas wie Technokratie. Und ja, es gibt auch wirklich eine solche Gruppe (Trilaterale Kommission). Aber es gab eben keinen direkten Kontakt zwischen den beiden.
Tom: Ja, das stimmt. Dazu habe ich auch recherchiert, weil ich mich natürlich ebenfalls mit der Trilateralen Kommission und anderen Organisationen bezüglich der Einflussnahme auf Geopolitik im Lauf der Zeit befasst habe. Und es gibt tatsächlich keine dokumentierte Verbindung zwischen dem Council on Foreign Relations oder anderen Organisationen und der Technocracy Inc., die man mit irgendeinem Dokument eindeutig belegen könnte. Es könnte also durchaus sein, dass Kissinger und Co. einfach den Markt öffnen wollten und China bereits von einem zentralistischen Ansatz mit kommunistischem Hintergrund beeinflusst war – und sich daraus dann diese – wie du es nennst – bösartige Form der Technokratie entwickelte. Kombiniert man derartige Voraussetzungen mit zusätzlichem Geld, Technologie und Know How aus Hightech-Ländern wie den USA, um den Markt zu entwickeln, könnte aus dieser Mixtur das heute herrschende System entstehen. Das ist eine valide These. Bemerkung am Rande: Ich habe Patrick Wood vor unserem zweiten Treffen eine Nachricht geschickt und gefragt, ob er bereit wäre, daran teilzunehmen (Charmie und Justin lachen). Ich habe ihm per E-Mail unser erstes Gespräch geschickt – sowie eine formelle Presseanfrage – und gefragt, ob er willens wäre, mit mir einen Termin für diese zweite Aufzeichnung mit euch beiden abzustimmen. Und auch ich habe keine Antwort bekommen.
Charmie: Ich möchte noch einen ganz simplen Punkt ansprechen – vielleicht weiß das auch schon jeder – aber die Technokratiebewegung entstand aus dem Wissen heraus, dass Technologie die gesamte Gesellschaftsstruktur verändern würde. Dass sie Menschen die Arbeit abnehmen würde. Man stellte sich folglich die Frage, wie damit am besten umzugehen sei, um die negativen Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt möglichst gering zu halten. Kurz gesagt: Bei Technokratie ging es um die Frage, wie wir uns diesem massiven, unaufhaltsamem Wandel anpassen und am besten damit umgehen können. Das war die Basis. Man sah, dass diese Entwicklungen nicht aufzuhalten sind und wollte proaktiv damit umgehen, anstatt später darauf reagieren zu müssen. Man wollte sich nicht erst darum kümmern, wenn man den Job bereits (an die KI) verloren hat – denn man wusste, dass Technologie menschliche Arbeitskraft irgendwann obsolet machen wird.
Tom: Justin? Wolltest du noch etwas anfügen?
Justin: Ja. Es gibt eine großartige Fernsehserie, die aufgreift, wovon Charmie gesprochen hat. Sie heißt »Continuum«. Es geht darin um eine zeitreisende Polizistin aus der Zukunft. Und es existieren neuartige Technologien, die bestimmen, ob die Zukunft eine Dystopie oder Utopie ist – und genau damit sind wir heute konfrontiert. Es gibt Technologien, die großartig sein könnten. Siehe beispielsweise die Ortung einer Person. Das kann genutzt werden, um die Privatsphäre einer Person zu verletzen. Aber andererseits auch dafür, jemanden zu orten, der sich im Wald verirrt hat. Es ist also ein zweischneidiges Schwert. Es kommt darauf an, wer es führt und bestimmt, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Wir sehen ja, dass China dieselben Werkzeuge benutzt wie wir – man diese dort aber für invasive Zwecke verwendet. Wir leben jedoch in einer Demokratie. Daher tendieren wir dazu, Dinge zu regulieren und einen Nutzungsrahmen festzulegen.
Tom: Das stimmt natürlich. Und es ist eine gute Überleitung zu den zwei Fragen, die wir als häufigste Reaktion auf unser erstes Gespräch erhalten haben. Bei der ersten ging es um Datenschutz und Privatsphäre. Wie würdet ihr euch positionieren, oder was würdet ihr jemandem antworten, der sagt, in einer technokratischen Welt herrsche vollständige Transparenz? Privatsphäre ist ja ganz offensichtlich passé, wenn alles zentral gesteuert und überwacht wird. Und mir als Privatperson ist es nicht möglich, nachzuvollziehen, wer Zugriff auf meine Smartphone-Daten hat, meine E-Mails mitlesen oder meine Finanztransaktionen einsehen kann. In einer vollentwickelten Technokratie – sagen wir 20 Jahre in der Zukunft – wenn alles komplett digitalisiert und algorithmisiert und Privatsphäre gegenüber Staat oder Herrschaftszirkeln ein Relikt der Vergangenheit ist: Was sagt ihr Leuten, die sich vor solch einem Szenario fürchten?
Justin: Ich denke, da geht es um zwei Aspekte. Erstens müssen wir definieren, was Privatsache ist. Wenn eine Regierungsbehörde in die Privatsphäre eindringt und private Daten sieht, muss die Frage geklärt sein, bis wann etwas Privatsache ist und ab wann es sich um ein Komplott zum Sturz der Regierung handelt. Wo verläuft da die Grenze? Was sind die Grenzen deiner Privatsphäre? Woher weiß man, dass jemand nur Dampf ablässt und phantasiert und das harmlos ist? Wir müssen das definieren.
Tom: Verzeih mir die Unterbrechung – aber sollte es nicht so sein, dass die Gedanken grundsätzlich frei sind und man nur dann mit Repressionen rechnen muss, wenn man tatsächlich eine Straftat begeht? Dass man erst dann eine Geldstrafe bekommt oder ins Gefängnis muss? So lange man nur denkt, was man will, ist das doch in Ordnung, wenn daraus keine strafbare Handlung entsteht.
Charmie: Ich denke, Justin spricht eher darüber, dass man etwas auf einem Blog schreibt oder so. Das sind deine Gedanken und die sollten stets Privatsache sein. Korrekt?
Justin: Gerade wurden ein paar Teenager verhaftet, weil sie auf den sozialen Medien angekündigt haben, jemanden »fertigmachen« zu wollen. Ist das ein Verbrechen – oder müssen wir warten, bis diese Kids tatsächlich etwas unternehmen? Bei anderen Vorfällen ging es um Personen, die Schutzwesten, Waffen und Munition kauften, diese horteten und darüber sprachen, wie sie Menschen »für etwas bezahlen lassen« wollen. Ist das ein guter Zeitpunkt einzugreifen – oder willst du noch länger warten, dass die tatsächlich aktiv werden? Wir brauchen also eine breit angelegte Debatte darüber, wo die rote Linie ist und an welchem Punkt wir eingreifen wollen, um festzustellen zu können, dass Johnny doch nur Dampf ablassen wollte.
Tom: Das ist prädiktive Polizeiarbeit, wie sie in machen US-Metropolen bereits praktiziert wird. Dort taucht die Polizei dann tatsächlich bei Personen zu Hause auf, bevor diese irgendetwas getan haben. Das ist dann schon eine philosophische Frage – und ein sehr diffiziles Thema.
Justin: Ja. Das zeigt sich auch an den sogenannten Red Flag Gesetzen, die wir hier haben, die es Bürgern erlauben, Menschen wegen der Anhäufung von Waffen zu melden, wenn sie fürchten, dass davon Gefahr ausgeht. Solche Waffensammlungen kann man der Polizei melden, die diese Waffen dann konfisziert. Um sie zurückzubekommen, muss man ein aufwändiges Gerichtsverfahren durchlaufen. Dieses Vorgehen könnte man auch als eine Art von Pre-Crime-Policing betrachten.
Tom: Charmie, wolltest du dazu noch etwas sagen? Sorry.
Charmie: Ja. Es hängt einfach davon ab, wer die Kontrolle hat. Wie Justin sagt: Es geht darum, wer Zugriff auf Daten hat oder diese interpretiert. Wenn man ein emotionaler Mensch ist und sich über alles aufregt, interpretiert man die Daten auf eine bestimmte Weise. Wenn man eher wissenschaftlich denkt, erkennt man, ob sich ein Muster entwickelt oder nicht. Und wie Justin feststellte: Dampf ablassen ist eine Sache. Aber wenn es eskaliert, wenn die Rhetorik aggressiver wird, ist das etwas anderes. Ich denke, es hängt wirklich davon ab, wer die Interpretation der Daten steuert.
Tom: Dann noch mal zurück zur ursprünglichen Frage. Wie steht ihr zum Thema Datenschutz? Müsste ich akzeptieren, dass stets auf all meine Daten zugegriffen werden kann? Werden die erst mal nur durch künstliche Intelligenz analysiert – und wenn sich gefährliche Muster erkenn lassen, wird einem Menschen Zugriff darauf gewährt?
Charmie: Nun, die künstliche Intelligenz muss man aus zwei Perspektiven betrachten. Zum einen ist sie nur so gut, wie ihre Programmierung. Es kommt darauf an, wer sie wie programmiert. Das ist interpretationsoffen. Aber was die Daten angeht wissen wir längst, dass alles, was wir mit Smartphones machen, öffentlich ist. Man kann nur entscheiden, es nicht zu nutzen. Ich zum Beispiel schreibe. Und habe ein Tagebuch. Ich habe keinen Blog, aber ein Tagebuch, in das ich hier bei mir zu Hause schreibe was auch immer ich will. Niemand wird das sehen. Man kann sich bewusst für Privatsphäre entscheiden. Man muss seine Notizen nicht in der digitalen Welt ablegen. Tut man es trotzdem, muss man damit rechnen, dass irgendwann jemand Zugriff darauf hat – entweder, weil man selbst einen Fehler begangen oder weil jemand den Computer gehackt hat. Dann ist es öffentlich und steht für Auswertungen zur Verfügung. Deshalb nutze ich Papier und Stift – weil ich nicht möchte, dass alles, was ich denke, öffentlich wird.
Tom: Das stimmt. Man kann auch Briefe versenden. Leider wurde aber auch das Postgeheimnis legislativ geschwächt. Briefe können jetzt viel einfacher geöffnet werden als noch vor 20 Jahren. Der Staat greift also auch da ein. In vielen europäischen Ländern wurden die Gesetze entsprechend aufgeweicht und das Öffnen von Post ist nun deutlich einfacher.
Charmie: Man schreibt also einfach nur einem Freund oder seinem Partner und die können die Post öffnen?
Tom: Wenn dein Social-Media-Profil impliziert, dass du ein »subversiver Charakter« bist, wenn die Behörden irgendeine Begründung konstruieren können, ist das Gesetz auf deren Seite und sie können tatsächlich deine physische Post öffnen, ja.
Charmie: Ein Freund von mir versucht derzeit … Entschuldige bitte, gib mir kurz einen Moment.
Tom: Klar, kein Problem. In der Zwischenzeit kann ich Justin noch eine Frage stellen. Nachdem du vorhin von Waffen gesprochen hast, wollte ich fragen, was die Position der Technocracy Inc. in Bezug auf das Waffenrecht ist. Das ist ja ein großes Thema in den USA. Würde das Waffenrecht – also der zweite Verfassungszusatz, wenn ich mich nicht täusche – in heutiger Form erhalten bleiben?
Charmie: Ich muss leider unterbrechen, weil ich mich jetzt ausklinken muss. Ich muss schauen, was mit meinem Hund ist. Der ist gerade zusammengebrochen.
Tom: Oh – klar, mach das. Wenn du nachher wieder teilnehmen kannst, verwende einfach den gleichen Link, um dich wieder einzuwählen. Wenn das nicht geht, tauschen wir uns später nochmals aus.
Charmie: Alles klar. Vielen Dank.
Tom: Okay. Ich danke dir. Dann machen wir beide einfach zu zweit weiter, Justin.
Justin: Ja.
Tom: Das ist tatsächlich eine gute Frage: Was ist die Position der Technokratiebewegung in Bezug auf das Waffenrecht und den zweiten Verfassungszusatz?
Justin: Technokratie ist als System zu verstehen. Das Thema Waffenrecht ist aber eher eine soziale Frage. Diese wäre von jeder Region selbst zu klären. Ich würde aber annehmen, dass das Recht auf Waffenbesitz und die Meinungsfreiheit bei der Implementierung einer Technokratie in den USA erhalten bleiben sollten, weil diese Dinge hier Tradition haben. In anderen Ländern, wo das keine Tradition ist, würde man das vielleicht anders regeln. In Europa habt ihr zum Beispiel ganz andere Traditionen in Bezug auf Meinungsfreiheit als in Amerika. In Europa passieren Dinge, bei denen Amerikaner ausflippen würden und die Flagge verbrennen. Diesbezüglich gibt es ganz unterschiedliche historische Hintergründe.
Tom: Ja, das gilt auch umgekehrt. In den USA sind Dinge erlaubt, die man hierzulande für völlig verrückt hält. Wenn man zum Beispiel auf einen amerikanischen Flohmarkt geht, sieht man dort oft Uniformen und Abzeichen aus dem Zweiten Weltkrieg – das wäre in Deutschland natürlich verboten.
Justin: Ich weiß genau, was du meinst. Denn ich kaufe manchmal Computerspiele und einige davon werden in Europa produziert. Sie sind für den europäischen Markt bestimmt, weshalb Symbolik zensiert wird, die gegen die deutschen Gesetze verstößt.
Tom: Ja, das stimmt. Nachdem wir eben kurz unterbrochen wurden, würde ich gerne noch einmal auf das Thema Privatsphäre eingehen. Auf Datenschutz. Denn ich glaube, wir haben diese Frage nicht wirklich beantwortet. Angenommen, wir leben in einer Technokratie, so wie ihr euch das System im Idealzustand vorstellt, wäre dann noch ein Datenschutz in heutiger Form gewährleistet? Oder ist das Level an Privatsphäre automatisch geringer, weil Automatisierung und Zentralisierung der Kontrollinstanzen zunehmen? Gäbe es also generell weniger Privatsphäre als heutzutage, weil dieser Einschnitt nötig ist, um das System Technokratie in voller Ausprägung zu betreiben?
Justin: Ich denke, Technokratie versucht im Idealfall, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Wenn die Gesellschaft etwas braucht, bekommt sie es vielleicht. Wenn sie es nicht braucht, bekommt sie es nicht. Vergleicht man die Welt vor dem 11. September 2001 mit der Zeit danach, machten wir uns vor dieser Zäsur nicht wirklich Sorgen, wenn wir in ein Flugzeug eingestiegen sind. Das liegt nun über 20 Jahre zurück und wir machen uns immer noch Sorgen, wenn wir in ein Flugzeug steigen. Ich denke, man würde die gleiche Debatte führen. Man würde generell versuchen, die Leute in Ruhe zu lassen. Aber wenn die Leute beginnen, Dinge in die Luft zu jagen, müsste man in die Privatsphäre der Menschen eingreifen. Dahingehend kenne ich die Vereinigten Staaten. Ich habe viel darüber gelesen, wie NSC und CIA mit Data Mining und Big Data versucht haben, riesige Datenmengen zu durchforsten, was selbst unter Zuhilfenahme von KI eine fast unmögliche Aufgabe ist. Selbst mit KI muss man Daten in bestimmten Bereichen noch gezielt überprüfen. Diese werden anschließend einem Gutachter vorgelegt, der sie erneut analysiert. So würde das wahrscheinlich aus logistischer Sicht auch in der Technokratie funktionieren. Aus Effizienzgründen. Ob das jedoch notwendig wäre, würde die Gesellschaft entscheiden. In einer harmonischen Gesellschaft besteht dafür kein großer Bedarf. Und es gibt ja durchaus eine Vielzahl von Ländern auf dieser Welt, in denen man sich nicht so viele Sorgen um Verbrechen und Terrorismus machen muss wie in den Vereinigten Staaten.
Tom: Allerdings. Es gibt große Unterschiede zwischen der Schweiz, oder einer Großstadt hierzulande, und manch einem Viertel von New York City. Dort muss man sich wirklich anders verhalten, wenn es beispielsweise um nächtliche Aktivitäten geht. Es hängt also von den Voraussetzungen ab. Deine Antwort ist im Grunde: Wenn die Voraussetzungen nicht gut sind, muss die Sicherheitsinfrastruktur verstärkt werden. Und wenn eine harmonische, friedliche Gesellschaftsstruktur existiert, ist das nicht nötig.
Justin: Man nehme einen Platz wie Hawaii – und stelle sich eine Technokratie in Hawaii vor. Dort hätte man vermutlich keine Sicherheitsprobleme, korrekt? Und wenn es doch welche gäbe, kämen sie vermutlich von außen. Das heißt, man könnte sich bei der Überwachung auf Menschen konzentrieren, die von außerhalb auf die Insel kommen. Man könnte das also recht smart lösen. Man müsste dort keinen repressiven Polizeistaat implementieren, der jedermann überwacht, weil das einfach keinen Sinn machen würde. Schaut man sich die Ausgaben Chinas für Spionage an, gibt man dort mehr Geld für die innere Sicherheit aus als für das Militär. Das ist verrückt. China verwendet mehr Zeit, Mühe und Energie darauf, das eigene Volk zu kontrollieren, als darauf, sich um Gegner im Rest der Welt zu kümmern. Wahnsinn, oder? Ist das nicht absolut verwerflich?
Tom: Amerika hat den größten Verteidigungs- und Militärhaushalt der Welt – und hat sich in der Vergangenheit auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert, was Massenüberwachung betrifft. Man erinnere sich an den Edward-Snowden-Leak, das PRISM-Programm, Facebook und Cambridge Analytica, et cetera. Da war ja auch einiges geboten. Aber das ist ein anderes Thema. Letztes Mal habe ich dich gefragt, welche Barrieren die Technokratie vorsieht, um zu verhindern, dass das System von Gier dominiert wird wie der Kapitalismus. Denn es gibt ja eine kleine Gruppe, zum Beispiel den großen Rat einer Region, der für die Ressourcen verantwortlich ist. Im ersten Gespräch hast du ausgeführt, dass dieser sich an einen moralischen Codex halten muss, um Entwicklungen wie im Kapitalismus zu verhindern. Nun gibt es aber auch im Kapitalismus so etwas wie moralische Grenzen – nur funktionieren diese nicht. Das haben auch einige unserer Zuschauer angemerkt. Ist es nicht naiv anzunehmen, dass sich das Verhalten der Menschen ändert, nur weil man ein neues System einführt? Oder gäbe es in der Technokratie weitere Mechanismen, die Menschen dazu anhalten, moralischer zu handeln als im heutigen Kapitalismus?
Justin: Das wichtigste Ziel der Technokratiebewegung, des Venus-Projekts oder der Zeitgeistbewegung ist, eine Gesellschaft zu etablieren, in der es keine Engpässe gibt. Der Fokus liegt auf der Überwindung von Knappheiten. Die Grundidee dabei ist, dass die menschliche Zivilisation sich nivelliert und damit aufhört, Gewalt einzusetzen, wenn Not, Panik und Knappheiten überwunden werden. Sprich: Wenn man ein Haus, Essen, Medikamente, etwas Urlaub, ein angemessenes verfügbares Einkommen und einen passablen Job hat, ist man weniger bereit, sich an illegalen Aktivitäten zu beteiligen. Das ist der Kerngedanke. Wo ich arbeite, haben wir viele Probleme mit Obdachlosen. Diese Menschen haben Drogenprobleme, psychische Probleme und Probleme damit, Arbeit zu finden. Deshalb begehen sie Straftaten. Aus diesem Grund versuchen wir gerade, sie in Wohnungen unterzubringen, ihnen Essen und ein Einkommen zu geben. Das adressiert aber weder die psychische Gesundheit noch die Drogenprobleme, die deutlich gravierender sind. Eine gesunde Gesellschaft, die sich um die Belange der Menschen kümmert, sollte also funktionaler sein und weniger Funktionsstörungen aufweisen. Das ist das Argument der Technokratie: Durch gute Planung werden die Bedürfnisse der Menschen erfüllt und soziale Funktionsstörungen reduziert. Eine funktionierende Technokratie sollte stets darum bemüht sein, zu verstehen, was die Bürger sich wünschen, was sie benötigen – damit diese Bedürfnisse erfüllt werden können. Es wird vielleicht nicht jeder seinen Traumjob finden, aber es sollte genügend Handlungsspielraum geben, um eine andere Aufgabe zu finden, wenn man mit der aktuellen Arbeit unzufrieden ist.
Tom: Okay. Wenn es eine zentrale KI oder eine Software gibt, die das System steuert und Bedarfe berechnet, wie würde man sicherstellen, dass diese neutral agiert? Nachdem nun viele Menschen erste Erfahrungen mit ChatGPT gemacht und festgestellt haben ...
Justin: Oh ja.
Tom: Als die Anwender ChatGPT fragten, ob es ein nettes, kurzes Gedicht über Donald Trump schreiben könne, bekamen sie die Antwort, dass das nicht möglich sei. Fragten sie nach solch einem Gedicht über Joe Biden, lieferte ChatGPT das Gedicht in Sekundenbruchteilen. Es scheint demnach eine gewisse Voreingenommenheit zugunsten der Demokraten zu geben. Wie also können wir sicherstellen, dass Technologie neutral bleibt und tatsächlich dem Wohle aller dient, anstatt der Partei, die sie programmiert?
Justin: Ich denke, es geht um ein System der gegenseitigen Kontrolle, wie es in jeder Regierung üblich ist. In einigen Science-Fiction-Genres wird beispielsweise darüber gesprochen, KI in die Regierung zu integrieren. In Amerika gibt es aber den Präsidenten, den Senat und den Kongress. Das ist sozusagen das Dreieck, in dem Entscheidungen getroffen werden. Würde man dieses Entscheidungsdreieck um eine KI erweitern, würde man die KI zwar in einem Schritt konsultieren – aber die Macht, die KI zu überstimmen, liegt weiterhin bei den drei anderen Instanzen, wenn diese die Entscheidungen der KI für falsch halten. In jedem Bereich gäbe es Menschen, die in der Lage sind, die Entscheidungen der KI zu revidieren, wenn sie deren Entscheidung als falsch erachten.
Tom: Gut. Denn in China nimmt das bereits beängstigende Ausmaße an. Dort wurde letztes Jahr eine Art KI-Staatsanwalt eingeführt. Nein, sorry – ein KI-Richter. Eine Maschine als Richter. Da sitzen also Menschen im Gerichtssaal vor einer Kamera und der Computer wertet Daten zu Vorstrafen, Social-Media-Profilen, et cetera aus. Dann darf die angeklagte Person sich gegenüber der Maschine erklären. Und dann schlägt diese eine verbindliche Entscheidung vor. Und wenn der Computer urteilt, dass die Person ins Gefängnis sollte, geht diese Person in den Knast. Das ist beängstigend. Wenn das die einzige Instanz ist, mit der man es als Mensch bezüglich solcher Entscheidungen zu tun hat, gibt es keinen Verhandlungsspielraum. Mimik et cetera spielen keine Rolle mehr.
Justin: Es geht ja nicht darum, wie wir einen Richter programmieren. Denn bevor jemand Richter werden darf, muss er jahrelang als Anwalt tätig gewesen sein. Man würde also wahrscheinlich versuchen, das Programm zu testen und es zunächst in der Rolle des Verteidigers nutzen, um zu sehen, wie gut es sich als Strafverteidiger schlägt. Wenn es in der Rolle als Strafverteidiger versagt, würde man es wohl kaum weiter nutzen wollen. Zudem würde man stets einen Menschen daneben sitzen lassen, der es beaufsichtigt und eruiert, wie es sich entwickelt.
Tom: Gut. Denn ChatGPT hat in den USA unlängst Examensprüfungen im Bereich Wirtschafts- und Rechtswissenschaften bestanden.
Justin: Ja. Ich bin sicher, dass ChatGPT das kann. Elon Musk spricht ja glaube ich davon, dass KI und Computertechnik als Erweiterung für den Menschen eingesetzt werden sollten. Wir sind dank unserer Smartphones ja schon jetzt kybernetisch optimiert – und gerade an einem Punkt angelangt, an dem wir versuchen, diese Beziehung so zu gestalten, dass wir selbst nicht mehr alles wissen müssen. Ich kann heute einfach an meinen Computer gehen und fragen, wie ich mein Auto reparieren soll. Und der Computer erklärt es mir. Wir sollten diese Art von Interaktion nutzen – aber eben nicht so, dass der Computer das Leben diktiert. Ich sollte die Befehle geben. Die Technik sollte mir assistieren.
Tom: Das funktioniert bei vielen Menschen aber schon heute nicht mehr, weil sie von Social Media manipuliert sind. Viele hängen permanent auf Instagram und Co. – und leiden dann unter Depressionen. Es hat uns eben niemand beigebracht, wie wir diese Technologie produktiv und sinnvoll einsetzen. Für die meisten Menschen ist diese Flut an Informationen schlichtweg überwältigend.
Justin: Ja. Die Art und Weise, wie unser Gehirn auf das Ansehen von Videos reagiert – siehe Dopaminausschüttung – ist wirklich faszinierend. Darüber wird leider nicht viel gesprochen. Das sollten wir aber. Denn das wirkt auf unser Gehirn wie Drogenkonsum. Meinen Sohn muss ich auch ständig dazu anhalten, nicht permanent etwas am Computer oder am Handy zu machen und etwas anderes zu tun.
Tom: Absolut. Deshalb haben die Kinder von Social-Media-Mogulen wie Sean Parker weder Handys noch Social-Media-Konten. Es macht süchtig. Und die wussten das. Parker erklärte das sogar auf einer Pressekonferenz. Sie wussten, dass es süchtig macht – und taten es trotzdem.
Justin: Ja. Sie haben gesagt, sie hätten untersucht, wie viele Minuten man Menschen den Inhalten aussetzen muss, um die gewünschte Reaktion zu erzielen. Jetzt wurden auch eine ganze Reihe von Videospielen entwickelt, die wirklich albern und einfach sind, weil sie so eine stärkere Dopaminreaktion auslösen. Die nutzen also jetzt psychologische und physiologische Forschung, um die Spiele so zu programmieren, dass sie die Dopaminausschüttung verstärken. Die machen genau das, was Tabakkonzerne und Drogendealer jahrelang getan haben, um den Suchtfaktor und die Abhängigkeit zu verstärken. Nur jetzt eben per Computer.
Tom: Ich glaube, genau davor haben viele Menschen Angst. Denn wenn alles um uns herum noch digitaler wird, noch bequemer – nenn es Kapitalismus, Konzernoligarchie, das System, oder wie auch immer – ist das psychologische Kriegsführung gegen die Spezies Homo sapiens, die irgendwie damit klarkommen muss. Und dazu sind wir bis zu einem gewissen Grad einfach nicht in der Lage. Davor fürchten sich viele. Das kann man an den Kommentaren unter unserem Video ablesen. Es besteht eine berechtige Sorge, Opfer der technologischen Entwicklungen zu werden. Gleiches gilt für die transhumanistischen Tendenzen, die auch Elon Musk hin und wieder thematisiert, wenn er sagt, dass Menschen durch Chipimplantate optimiert werden können – während wir als Spezies aber Gefahr laufen, zum Cyborg zu werden und im Rahmen dieser Entwicklung unsere Menschlichkeit einzubüßen. Wo zieht das technokratische Modell da eine Grenze? Gibt es eine klare Abgrenzung zwischen Mensch und Technologie? Oder ist biodigitale Konvergenz auch in der Technokratie vorgesehen? Ähnelt die finale Ausbaustufe des Modells dem transhumanistischen Konzept? Wie siehst du das?
Justin: Ich denke, auch das ist eine soziale Frage. Und es hängt von der jeweiligen Gruppe ab. Es wird eine Gruppe von Transhumanisten geben, also Menschen, die sich dafür begeistern und voll darauf einlassen. Aber es wird es andere geben, die das ablehnen. Es wird weltweit verschiedene Nischen geben, in denen sich unterschiedliche Menschen für unterschiedliche Dinge einsetzen. Das ist ein groß angelegtes, soziales Experiment, dessen Zeuge wir alle sein werden. Wir werden erleben, was mit den verschiedenen Gruppen passiert. Je nachdem, für was sie sich entscheiden. Vielleicht klappt etwas in dem einen Land oder der anderen Stadt nicht – daraus werden wir lernen und uns verbessern. Insgesamt wird es aber eine positive Entwicklung sein. Ich glaube jedoch, dass diese Entwicklung mit Sicherheit auch mit Wachstumsschmerzen verbunden sein wird.
Tom: Was unsere Zuschauer nach dem ersten Gespräch festgestellt haben, ist, dass wir eine gemeinsame Basis haben. Dass auch ihr – korrigiere mich, wenn ich falsch liege – das aktuelle System für kaputt und korrupt haltet. Dass wir in einer Art Korporatismus leben, in dem Unternehmen diktieren, wohin die Reise geht – und in dem strategische Entscheidungen nicht von sogenannten Volksvertretern getroffen werden. Selbst die Princeton Universität hat ja im Rahmen einer Studie 2017 (korrekt ist 2014) festgestellt, dass bei der Auswertung von Wahlen ersichtlich ist, dass es keinerlei Korrelation zwischen Wählerwillen und Realpolitik in Washington gibt. Die Korrelation ist null. Das war das Ergebnis von Princeton – ein ziemlich trauriger Zustand für eine Demokratie. Ich denke daher, dass wir bei der IST-Analyse recht eng beisammen sind. Denn der Status quo muss sich ändern. Während wir uns also langsam dem Ende dieser Unterhaltung nähern, würde ich gerne von dir wissen, was aus deiner Sicht die nächsten Schritte wären, um die Lage zu verbessern. Wie würden wir die Welt verändern müssen, um sie zu einem besseren Ort zu machen? Es ist so viel kaputt, so viele Dinge funktionieren nicht – was also sind die ersten Schritte, die wir gehen müssen? Vor allem im Bereich Technologie, die uns zusehends vereinnahmt, oder versklavt, anstatt dient.
Justin: Nun – ich nenne die USA gerne die Corporate States of America. Denn das ist das wahre Wesen unseres Landes. Die USA werden dominiert von Konzernstrukturen. Das ist klar. Wenn wir über Alternativen sprechen, bin ich überzeugt, dass die Entstehung jeder Nation auf Stadtstaaten basiert. Auch wir sind eine Ansammlung von Stadtstaaten, die ihre jeweils eigenen Charakteristika aufweisen. Diese Charakteristika fließen dann in das größere Gebiet ein, das diese Stadtstaaten besetzen. So sind auch die USA weiterhin eine Ansammlung von Stadtstaaten. New York hat ein komplett anderes Flair als Los Angeles. Es sind sehr unterschiedliche Orte, unterschiedliche Systeme. Ich denke, dass sich neue oder alte Stadtstaaten mit unterschiedlichen Systemen neu erfinden werden – und wir werden sehen, was davon gut funktioniert. So ist jede Stadt ein Testgelände für neue Systeme und Ideen. Hoffentlich erkennen wir die am besten funktionierende Stadt und beginnen, deren Konzepte zu kopieren. Jemand muss mit gutem Beispiel vorangehen und uns zeigen, dass es einen besseren Weg gibt. Und das gelingt nur, indem man es vorführt und umsetzt. In Amerika haben wir unglaublich unterschiedliche Städte. Jede Stadt ist anders. Utah ist eine ganze andere Welt, als Las Vegas. Amerika ist ein großartiger Ort, um das zu demonstrieren. Und Europa ebenfalls. Und wie in fast jedem Land der Welt hat jeder andere kulturelle Vorstellungen davon, wie man Probleme löst. Wir müssen uns austauschen und sehen, was funktioniert und was nicht. Leider reden wir aber oft nicht miteinander – sondern zeigen nur mit dem Finger aufeinander.
Tom: Ja, das ist richtig. Deswegen schätze ich solche Gespräche. Du wirst mich vielleicht nicht von deinen Konzepten überzeugen – und ich dich nicht von meiner Weltanschauung. Aber das ist auch nicht Sinn und Zweck einer Unterhaltung. Sinn und Zweck eines solchen Gesprächs ist es, den gemeinsamen Nenner zu finden, um das Habitat, das wir teilen, gemeinsam und in sinnvoller Weise nutzen zu können. Und noch einmal: Ich denke, wir sind uns in vielen Dingen einig. Wenn wir hier in Europa über Lösungen sprechen, geht es oft um dezentrale Strukturen. Um dezentrale Modelle. Und das könnte dann auch so etwas wie die von dir eben angesprochenen Stadtstaaten sein, die vielleicht alternative Währungen, anstatt den Euro nutzen. Es könnte dabei um eigene Telefonnetze gehen. Oder um die Etablierung von Alternativen zu bestehenden Internet-Anbietern. Vielleicht funktionieren diese Strukturen sogar besser, wenn sie erst einmal im kleinen Rahmen getestet wurden. Sodass sie am Ende auch auf eine breitere Masse der Bevölkerung attraktiv wirken. Das scheint mir nach deinen Ausführungen auch dein Ansatz zu sein: Konzepte im kleineren Rahmen ausprobieren, um zu sehen, ob sie funktionieren und etwas größeres daraus erwächst.
Justin: Im Grunde ja. Was mich an Dezentralisierung beunruhigt, ist unser Unvermögen, zusammenzuarbeiten und im größeren Maßstab positive Dinge zu erreichen. Wir stehen vor Herausforderungen, bei denen wir im großen Maßstab zusammenarbeiten müssen. Wenn ein Erdbeben eine Region erschüttert, müssen wir zusammenkommen und gemeinsam an diesem Ziel arbeiten. Dahingehend ist es nicht schwer, sich einig zu werden. Aber bei anderen Themen wie regionalen Kriegen ist es schwieriger, die Menschen zu einer Einigung zu bewegen. Meine Sorge diesbezüglich ist, dass wir uns bei der Dezentralisierung nicht ausreichend gegenseitig unterstützen. Wir müssen weiterhin in der Lage sein, zusammenzukommen und uns bei Dingen zu helfen, bei denen wir uns einig sind – und das geht verloren, wenn wir alle verschiedene Wege gehen.
Tom: Diesem Gedanken kann ich bis zu einem gewissen Grad folgen. Auf der anderen Seite denke ich aber, dass wir trotz der schon weit fortgeschrittenen Globalisierung gravierende Probleme in Regionen wie Afrika haben – während wir in Europa ein wunderbares Leben führen können. Das hattest du letztes Mal selbst angemerkt. Demnach sind Globalisierung und Zentralisierung – oder die Corporate States of Amercia – kein wirklich tragfähiges Modell. Wären wir dezentraler aufgestellt, gäbe es vielleicht gar keine regionalen Kriege. Denn lebe ich in einer kleinen Stadt, denke ich normalerweise nicht darüber nach, Panzer zu kaufen, um die Nachbarstadt anzugreifen. Wenn ich ein Problem mit denen habe, gehe ich dort einfach nicht hin. Würdest du nicht annehmen, dass Dezentralisierung das Konzept Krieg entkräften könnte, weil es gar keine größere Region mehr zu verteidigen oder einzunehmen gibt? Menschen sind ja nicht von Grund auf böse und gehen sofort aufeinander los.
Justin: Ich denke, hinsichtlich Globalisierung verhält es sich wie mit der Technokratie – man kann sie beliebig interpretieren. Die Art und Weise, wie wir Globalisierung derzeit umsetzen, ist meiner Meinung nach sehr manipulativ und missbräuchlich. Das muss man aber nicht so machen. Globalisierung hat keinen Sinn, wenn sie nur der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte dient. Wir können Globalisierung betreiben, indem wir jene Ressourcen miteinander tauschen, die nur in bestimmten Regionen vorkommen, zum Beispiel bestimmte Mineralien, die es nur in bestimmten Teilen der Welt gibt. Dafür braucht man diese Leute. Um solche Güter weltweit zu verteilen und zu handeln, müssen andere Güter, wie zum Beispiel Lebensmittel, in allen Ländern ausreichend vorhanden sein, sodass die eigene Bevölkerung ernährt werden kann. Ausnahmen gibt es beispielsweise in Wüstengebieten, die nicht genügend Nahrungsmittel produzieren können. Deshalb müssen dort große Mengen importiert werden. Oder? Es braucht sinnvolle Dezentralisierung, um lokal möglichst nachhaltig zu sein. Für die Aspekte, bei denen wir lokal nicht nachhaltig oder autonom agieren können, benötigen wir Globalisierung. Ich denke, damit würden wir ein höheres Maß an Effizienz erreichen, was sich unter anderem positiv auf die globale Erwärmung auswirken würde. Ein Großteil der Konflikte basiert auf Ressourcenknappheit. Ich habe zum Beispiel ein Buch gelesen, das mir sehr gut gefällt: »Ressourcenkriege«. Es führt die meisten Konflikte auf Ressourcenknappheit zurück, die schließlich zu sozialen Problemen und Kriegen führen. Viele haben darauf hingewiesen, dass auch der Bürgerkrieg in Syrien ursprünglich aufgrund von Wasserknappheit begann. Mit Bauern, die protestierten und Graffiti an die Wände malten. Als die Regierung hart gegen diese Demonstranten vorging, führte das schließlich zum Bürgerkrieg. Letztendlich begann es also mit Wasserknappheit bei den Bauern. Deshalb gibt es immer noch Kriege – weil wir unsere Ressourcen nicht richtig verwalten. Das ist ein weiterer positiver Aspekt von Technokratie: Effizientes Management. Wenn wir nicht effizient wirtschaften, steht uns ein Szenario wie bei »The Walking Dead« bevor und wir erschießen uns gegenseitig wegen Erdnussbutter (lacht).
Tom: Hoffentlich nicht wegen Erdnussbutter (lacht). Wenn es eine Sache in den USA gibt, die ich nicht mag, ist das Erdnussbutter (lacht). Wir haben hier ja auch so einen Kram – aber das ist mir einfach zu süß. Aber okay, ich verstehe, was du meinst. Das könnte durchaus sein. Und da uns jetzt langsam die Zeit davonläuft, komme ich auf eine letzte Frage, die vielen wirklich Sorgen bereitet: Das Geld. Wenn es in der Technokratie kein Geld gibt, sondern nur Energiezertifikate, assoziieren viele Menschen das natürlich mit einer Art sozialistisch-kommunistischem System. Wenn man kein Geld hat und sich kaufen kann, was man möchte, löst das ein negatives Gefühl aus. In Deutschland wird derzeit viel über CO2-Tracking gesprochen – wo es im Grunde genommen auch nur darum geht, den Energieverbrauch einer Person zu überwachen und zu steuern. Viele befürchten daher, irgendwann ihr Auto stehen lassen und zu Hause bleiben zu müssen, weil das monatliche Budget aufgebraucht ist. Was sagt du Menschen, die vor so einem Szenario Angst haben?
Justin: Es würde sich immer noch wie Geld anfühlen. Das ist das Wichtigste. Es würde sich immer noch wie Geld anfühlen, wenn wir mit Energiezertifikaten bezahlen. Letztendlich hätten die meisten Menschen wahrscheinlich sogar viel mehr als vorher. Das einzig Merkwürdige daran ist: Es läuft am Monatsende ab.
Tom: Und das ist genau das, wovor besonders viele Leute Angst haben – dass man nichts mehr sparen kann und das Konto am Monatsende auf null gestellt wird.
Justin: Im nächsten Monat erhält man aber sofort den gleichen Betrag. Der Grund, warum es am Monatsende abläuft, ist, dass man eine Akkumulation verhindern möchte – so, wie sie heute im Kapitalismus stattfindet. Das Horten unglaublicher Reichtümer.
Tom: Das ist ein guter Punkt – aber wohl auch der Moment, an dem wir für heute Schluss machen werden. Denn ich sehe, dass du Besuch bekommst.
Justin: Ja.
Tom: Dank dir noch einmal für das Gespräch. Ich finde das faszinierend. Denn es geht ja wirklich darum, was du vorhin gesagt hast – den Austausch von Ideen und offene Konversation. Ich hoffe, wir können diese irgendwann fortsetzen. Ich melde mich wieder bei euch. Man stößt ja schließlich auch auf viele Gemeinsamkeiten, wenn man mit anderen über deren Konzepte spricht. Darüber habe ich nach unserer ersten Unterredung viel nachgedacht. Auch in Bezug auf das, was ich in meinem Artikel zur Technokratie zusammengetragen und geschrieben habe. Denn selbst mit unterschiedlichen Sichtweisen erscheint es in Anbetracht gewisser Gemeinsamkeiten möglich, irgendwann zu einem Konsens zu gelangen. Wenn man lange genug miteinander spricht – und genau das sollten Menschen tun, ob links oder rechts, oben oder unten oder aus welchem Land – verbessert das die Lage aller Beteiligten.
Justin: Absolut.
Tom: Daher danke nochmals, dass du dir Zeit genommen hast. Danke an die Zuschauer – und vielleicht bis irgendwann für ein drittes Gespräch.
Justin: Okay. Danke.
Bild: Technocracy Inc.


