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Moral und Vernunft: Koordinatensystem einer Gesellschaft

Erfährt das traditionelle, mühevoll errungene Verständnis von humanistischer Moralkompetenz und Aufklärung einen irreversiblen Wandel? Fragen und Gedanken.


Tom-Oliver Regenauer | 29.03.2021 | Lesezeit: 10 Minuten

»Ziel eines Konfliktes oder einer Auseinandersetzung soll nicht der Sieg, sondern der Fortschritt sein.« (Joseph Joubert)

 

Die Grundfesten der Gesellschaft sind langsam, aber sicher ins Wanken geraten. Wir alle merken es. Bewusst oder unbewusst. Der soziale Umgang hat sich binnen eines Jahres drastisch minimiert, digitalisiert und distanziert – und auch die Sprache hat sich der omnipräsenten Viren-Krise angepasst. Sie ist radikaler, autoritärer und emotionaler geworden, als sie es im Zuge anhaltender Verrohung auch schon vor Corona war. Allerorten lässt man Moralkompetenz, Respekt und Empathie im zwischenmenschlichen Umgang vermissen.


Worte wirken – und die Art, wie sie gegenüber Mitmenschen eingesetzt werden, enthüllt auf welchem moralischen Fundament sie stehen. Vor allem, wenn sie wohlüberlegt aus dem Elfenbeinturm der Macht dem Stimmvolk dargereicht werden. Von Vernunft geprägt, ist Sprache reflektiv, präzise und orientiert sich an humanistischen Werten des freien Individuums. Sie drückt Respekt vor dem eigenen Argument sowie der gegnerischen Position aus. Erfolgreiche Konversation beruht auf Zuhören. Für einen hasserfüllten Monolog und Propaganda bedarf es keiner Gesprächspartner, sondern vielleicht eines Therapeuten. Eine konstruktive Debattenkultur muss von Respekt vor der Würde des Menschen durchdrungen sein, wenn sie auf dem Fundament aufgeklärter Bildung beruht. Von Moral hat sich Politik schon lange verabschiedet, wenn es überhaupt jemals ein Anliegen der Herrschenden war. Leider scheint aber auch die normale Bevölkerung die traditionellen gesellschaftspolitischen Werte seit etwa einem Jahr nicht mehr als allgemeingültiges Koordinatensystem der außerparlamentarischen Interaktion anwenden zu können.


Besonders deutlich wird dies in der politischen Debatte um die Corona-Politik der Bundesregierung. Die sozialen Medien sind ein Schlachtfeld. Ein Jahrmarkt der Eitelkeiten sowieso, jetzt aber auch der digitale Pranger für Andersdenkende und Nonkonformisten. Linke gegen Rechte, Antifa oder Nazi, #ZeroCovid-Enthusiasten gegen #AllesÖffnen-Verfechter, Impf-Dogmatiker gegen Impf-Skeptiker. Schubladen, Vorverurteilungen und Unterstellungen – Framing. Attacke und Verteidigung. Ein konstruktives Gespräch ist an vielen Stellen kaum noch möglich. Emotionen gewinnen schnell die Oberhand und fördern animalische Umgangsformen und Reflexe zu Tage. Ideologischer Tunnelblick, anstatt Moralkompetenz und Interesse an lebhaftem Diskurs, der in der Regel allen Parteien einer Auseinandersetzung zum Vorteil gereicht, weil man vom Gegner und auch dem eigenen Verhalten lernen kann.


Politik und Medien nutzen die aufgeheizte Stimmung für »Clickbait« und verschärfen so die Lagerbildung von Tag zu Tag, anstatt differenziert zu informieren und Diskurs konstruktiv zu moderieren. In den sozialen Medien vergessen auch besonnene Gemüter gerne, dass es Umgangsformen gibt. Besonders erschreckend ist, dass auch Personen des öffentlichen Lebens, Menschen mit Einfluss, Vorbild- und Lenkungsfunktion, die sich gegenüber dem Publikum gerne als Moralapostel und Gutmenschen gerieren, mit von der Partie sind, spalten, diffamieren und hetzen. Nicht nur die radikalisierten Lager, von denen man es erwartet. Ein ignoranter, dogmatischer und abwertender Umgang mit Menschen, die eine andere Meinung vertreten, scheint sich über alle Ideologien hinweg wachsender gesellschaftlicher Akzeptanz zu erfreuen. So funktioniert eine demokratische Gesellschaft aber nicht auf Dauer.


»Zusammen mit der Moral eines Volkes geht auch sein Schaffensdrang verloren.« (Thomas Jefferson)

 

Ist es heute umgekehrt? Hat die medial sedierte Gesellschaft in den vergangenen Dekaden stetig an Schaffensdrang sowie mentaler Kapazität eingebüßt – sodass Moral und Vernunft jetzt nur willfährige Opfer einer evolutionären (Fehl-) Entwicklung sind, im Zuge welcher sich der Mensch seinen Innovationen unterordnet? Hat fortlaufende Digitalisierung, und mit ihr die Veränderungen in der Selbstwahrnehmung und zwischenmenschlichen Kommunikation dazu beigetragen, dass sich die allgemeine Moralkompetenz zurückgebildet und asoziale Umgangsformen tragbar, gar salonfähig gemacht hat?


Einfacher gefragt: Haben die eigenen Fortschritte den Menschen in der Konsequenz dümmer, asozialer und kaltblütiger gemacht?

 

Jeder ist heute in einem solchen Masse Individuum, dass für Gesellschaft keine Zeit, kein Raum und keine Relevanz mehr vorhanden zu sein scheint. Das zeigt sich am konstanten Rückgang des Ehrenamtes, zerbrechenden Dorfgemeinschaften, Scheidungsquoten, dem an Bedeutung verlierenden Vereinswesen, zerrütteten Familien, einem Integrationsdesaster oder auch der stetig steigenden Anzahl der Single-Haushalte. Die Überforderung und geistige Kapitulation des Homo Consumens vor seinen eigenen Kreationen zeigt sich besonders in der Machtlosigkeit gegenüber der Informationsflut, die er selbst generiert hat, die ihn aber scheinbar gleichzeitig dazu treibt, sich dieser ohnmächtig zu ergeben.


Ist die Gesellschaft demnach nicht durchdrungen von inklusiv denkenden, fairen, kreativen, hippen, aber umweltbewusst und nachhaltig lebenden Tech-Individualisten, wie uns Marketing-Kampagnen ständig weismachen wollen, sondern von mental deprivierten, soziophoben, moral- und antriebslosen, digital sedierten Egoisten? Sind deswegen vor allem die als Moralapostel auftretenden Gutmenschen und Verfechter der »Cancel Culture« besonders konfrontativ, aggressiv und agitierend im Umgang mit anderen Meinungen? Ein Verhalten, das sie stetig den vermeintlich rechtsradikalen Gegnern vorwerfen.


Je inklusiver Wahlprogramm und Slogans einer Organisation daherkommen, desto faschistoider und ausgrenzender sind oft Sprache und der Umgang mit dem politisch Andersdenkenden.


In einem vernunftbasierten, moralisch untermauerten Koordinatensystem des Zusammenlebens wäre der politische und gesellschaftliche Ist-Zustand des Jahres 2021 überhaupt nicht denkbar. Auch nicht die derzeitige Eskalation in der Bürgerschaft oder der leichtfertige Umgang mit hart erkämpften Werten und systemischen Fortschritten. Dass die Politik, die herrschende Klasse, korrupt und auf ihren Vorteil bedacht ist, war jedem klar. Dass sie nun aber nicht nur zu ihrem Vorteil, sondern auch mutwillig zum Nachteil der eigenen Bevölkerung handelt, hätte kaum jemand in der Breite gewagt zu vermuten. Die Corona-Politik lässt aber genau diese Vermutung zu. Selbst bei Mitgliedern der etablierten Parteien, die sich in wachsender Zahl gegen ihre Vorsitzenden wenden. In der Politik ist Moral eben nicht ausschlaggebend. Wichtig ist Machterhalt, wie im Mittelalter.


Klassiker der Moralphilosophie wie Platon oder Aristoteles sollten die Menschen inspirieren, die Gesellschaft in ihrem Ringen um die besten Lösungen leiten – selbst die mittelalterliche Philosophie von Thomas von Aquin gibt Antworten auf akute Fragen. Gibt der transhumanistische Geist die Bildung auf, für Unterhaltung? Und vor allem, wenn die Antwort auf diese Frage »ja« ist, ist dieser Devolutionsprozess zu stoppen oder reversibel? Das Bildungssystem in Deutschland macht dahingehend wenig Hoffnung. Es animiert verstärkt zum Auswendiglernen und bildet Fachidioten aus, anstatt die Jugend mit einem freien Geist des Lernens zu beflügeln und für eine breite Allgemeinbildung zu sorgen.


»Kein Vormarsch ist so schwer, wie der zurück zur Vernunft.« (Berthold Brecht)


»Der Wille ist nicht nur von moralischen Gesetzen, sondern auch von Maximen bestimmt. Der Willen ist dazu da, eine bestimmte Wirkung in der Natur zu erzielen. Das heißt, dass der Gebrauch der Vernunft auf den Willen praktisch sein muss. Die menschliche Moral ist also von der praktischen Vernunft bestimmt«, sagt Kant.


Immanuel Kant ist der Ansicht, dass schon der gemeine Menschenverstand in der Lage sei, das Grundprinzip von Moral zu erkennen und sich mittels seiner Urteilskraft für das moralisch richtige Handeln zu entscheiden. Wer um der eigenen Glückseligkeit willen jemanden täuscht, weiß genau, dass es gegen das Sittengesetz verstößt. Das gleiche gilt für den Betrug. Kant erweitert seine Argumentation auch auf das Streben nach allgemeiner, überindividueller Glückseligkeit. Weil jeder Glückseligkeit anders bestimmt und dafür Erfahrung von Nöten ist, kann es für dieses Prinzip kein einheitliches Urteil geben, so der Philosoph.


Sind viele Menschen nicht nur von Politik, Karriere und Gesellschaft enttäuscht – sondern primär von sich selbst oder ihrem Leben, und suchen daher nach Projektionsflächen, auf die sie Selbsthass und Minderwertigkeitskomplexe fokussieren können? Während ihnen ihre ideologische (digitale) Blase Verständnis und Mitgefühl vermittelt, sie stärkt und in einer bornierten, einseitigen Weltsicht bestätigt? Ist es das Gefühl, in die Enge getrieben worden zu sein, welches die Parteien so aggressiv agieren lässt? Fällt es manchen nach einer Weile einfach schwer, sich selbst einzugestehen, dass sie über einen langen Zeitraum falsch lagen, weswegen sie paradoxerweise umso energischer die falsche Position verteidigen (müssen), um vor sich selbst zu bestehen?


Geht man davon aus, dass menschliche Moral, und damit moralisches Handeln, von der praktischen Vernunft bestimmt sind, erscheint es verstörend, mit welch unvernünftigen Mitteln Politik und Gesellschaft versuchen, einer Pandemie, dem wirtschaftlichen Niedergang und der sozialen Spaltung durch COVID-19 Herr zu werden. Weder Corona-Maßnahmen, Wirtschaftspolitik, Berichterstattung, noch staatliche Kommunikation oder individuelles Handeln der Bürgerschaft scheinen vernünftigen Maßstäben, Werten, Routinen, Prozessen und Handlungsempfehlungen für entsprechende Situationen zu folgen. Alles ist irgendwie irrational, nicht korrelativ. Überall mehr Schein statt Sein.


Dahingehend markiert die Corona-Krise für den deutschsprachigen Raum wohl den größten Paradigmenwechsel seit dem zweiten Weltkrieg. Eine derartige ideologische Polarisierung, vergleichbare Risse in der Gesellschaft und eine ähnliche Stigmatisierung politischer Gegner hat es seither nicht mehr gegeben. Auch im Nationalsozialismus musste die Vernunft früh hintenanstehen, wenn es darum ging, wahnsinnige Ziele zu erreichen oder das Gesicht nicht zu verlieren. Die Moral folgte ihr auf dem Fuße, und das nicht nur an der Spitze der Bewegung. Das Mitläufertum macht totalitäre Strukturen erst möglich. Es entsteht, wenn Menschen aufhören zu denken und beginnen zu glauben. Wer glaubt, nimmt manch logische Unschärfe in Kauf, um sich selbst zu retten. Dabei ist Glaube nicht Moral, wie uns die katholische Kirche schon mit der Inquisition bewiesen hat. Vernunft und Moral stehen über Ideologien und vor dem Gesetz – und sie sollten dringend wieder als Richtschnur und Koordinatensystem des soziopolitischen Denkens und Handelns dienen.


»Kritisiere nicht, was Du nicht verstehen kannst.« (Bob Dylan)



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