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Abpfiff in der Loge

Kurz vor dem Eröffnungsspiel der WM in Katar am 20. November 2022 folgend der erste Teil eines Gastbeitrags über das Leben und Sterben König Fußballs. Schwerpunkt - Kommerz und Korruption.



Henrik Jan Mühlenbein | 08.11.2022

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Gewidmet: Eric Cantona.


Bei der Auslosung zur Champions League 2019 stellte Eric Cantona die gesamte Fußballwelt mit seiner kurzen Rede vor ein Rätsel:


„Was die Fliegen für die Wanton Boys, sind wir für die Götter. Sie töten uns, weil es ihr Sport ist. Bald (…) werden wir unsterblich sein. Nur Unfälle, Verbrechen und Kriege werden uns noch töten. Unglücklicherweise vervielfältigen sich Verbrechen und Kriege. Ich liebe Fußball!“


Für Rückfragen zur Bedeutung seiner Aussagen stand er im Anschluss nicht zur Verfügung.


Prolog


Fußball ist ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Für viele Menschen ist der Sport gleichermaßen Lebensinhalt wie Religionsersatz. Das Phänomen Fußball erstreckt sich über die ganze Welt. Von der Volksrepublik China bis in die Vereinigten Staaten von Amerika. Als Gründe für seine exponierte Stellung in der Welt des Massensports können die umfassenden Anforderungen an Körper und Geist, die gute Darstellbarkeit auf Bildschirmen und Leinwänden oder auch der Verzicht auf komplizierte Ausrüstung und Regeln angeführt werden. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist die soziale Komponente. Sowohl als Spieler als auch in der Rolle des Fans kommt der fußballbegeisterte Mensch dank des runden Leders völlig unvoreingenommen und ungezwungen mit fremden Menschen aus aller Herren Länder oder sozialen Schichten zusammen und teilt eine gemeinsame Leidenschaft, die sich für das begeisterte Individuum in unvergesslichen Erlebnissen und Emotionen manifestiert.


Betrachtet man die Fußballgeschichte von den Anfangstagen bis in die heutige Zeit, kann man in diesem faszinierenden Sport schon seit über einhundert Jahren die Charakteristika einer vereinnahmenden Volksbewegung erkennen. Die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft wissen um die vom Sport ausgehende Strahlkraft und bringen sich mit allen Mitteln ein. Ihre Zielsetzungen sind dabei stets identisch. Es geht primär darum, Geld zu verdienen, um positiven Imagetransfer, die Zentralisation von Macht sowie Steuerung und Sedierung der Massen. Der herrschende Zeitgeist spielt ebenfalls eine erhebliche Rolle bei der Betrachtung des Massensports, prägt er doch stets die Art und Weise, wie leistungsorientierter Fußball in der Gesellschaft wahrgenommen wird.


Heute ist der Profifußball – wie alle anderen Lebensbereiche – vor allem von Globalismus und medialer Dauerberichterstattung beeinflusst. Die zwanzig internationalen Top-Vereine generieren gemäß Angaben der Unternehmensberatung „Deloitte“ über neun Milliarden Euro Umsatz im Jahr. Der weltweite Dachverband FIFA generiert laut "Statista" in Weltmeisterschaftsjahren wie 2018 fast fünf Milliarden Euro. Das fleißig kassierte Schwarz- und Bestechungsgeld nicht eingerechnet. Die Übertragungsrechte der Fußballbundesliga kosten circa 1,1 Milliarden Euro pro Jahr und werden im Pay-TV rund um die Uhr ausgeschlachtet. Finanz- und Medien-Mogule, Oligarchen, Autokraten und Scheichs kaufen weltweit Vereine, Organisationen und Wettbewerbe. Auch die hiesige Politik nutzt manch gute Vorlage zum erfolgreichen Abschluss. In Deutschland werden unbeliebte Gesetze nämlich besonders gerne im Verlauf großer Fußballturniere beschlossen. So wie die Erhöhung der Mehrwertsteuer im Jahr 2006, die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge im Jahr 2010 oder die Erhöhung der Parteienfinanzierung im Jahr 2018.


Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gilt im Folgenden die Wege nachzuzeichnen, die den Weltfußball in die Sackgasse geführt haben, in der er sich heute befindet. Das könnte echte Fußball-Liebhaber, passend zur unsäglichen WM in Katar, dazu motivieren, den Dachorganisationen, Konzernen, Investoren, Pay-TV-Sendern und Multimillionären so konsequent wie möglich den Rücken zuzukehren. Denn Fußball sollte stattdessen auf dezentraler Ebene, verstärkt in Amateur-Formaten zu gestalten und auf eine Art zu revitalisieren sein, die Menschen, vor allem Kindern und Jugendlichen, auch in Zukunft weiterhin den Zugang zu den positiven Aspekten dieser Sportart ermöglicht. Für wahrhaftigen Fußballzauber braucht es zum Glück weder FIFA noch UEFA, keinen DFB, kein Sky-Sports, keine raffgierigen Söldner, Manager und Berater, keine Großkonzerne und menschenfeindlichen Staatenlenker. Es braucht keine institutionellen Hierarchien und mafiösen Strukturen, sondern lediglich bunte Ligen, menschliche Trainer, faire Spieler, zwei Tore, einen Ball und Spaß an der Freude.


Kommerz und Korruption


Die Vorstellung ist zugleich faszinierend wie verstörend. Irgendwann im frühen Mittelalter werden in England die endlosen Massenprügeleien zwischen verfeindeten Nachbardörfern mit einem einfachen Spiel kombiniert. Das Spielgerät hat dabei die Größe eines Medizinballs. Das Ziel liegt für die Bewohner eines Dorfes jeweils darin, diesen Ball irgendwie in einen Bereich des anderen Dorfes zu bugsieren. Diese ansonsten nicht weiter reglementierten „Ballschlachten“ ziehen sich über größere Zeiträume und werden mit reichlich Gerstensaft und Hochprozentigem befeuert. So enden sie bedauerlicherweise nicht selten mit schweren Verletzungen. Bis hin zu Mord und Totschlag. Die öffentliche Ordnung muss von den Autoritäten mit reichlich Aufwand wiederhergestellt werden. Der Herrschaft in England passen diese ausufernden Exzesse nicht. Sie befiehlt, dass diese Art von „Spiel“ nur noch in der Fastnachtszeit stattfinden darf. Für den Rest des Jahres seien derart gemeingefährliche Narreteien zu unterlassen, so die Krone.


Es ist somit tatsächlich kein Zufall, dass sich bis heute die Anzahl von elf Spielern als feste Mannschaftsgröße gehalten hat. Diese Zahl gilt nämlich als Zahl der Narren, wie der Karnevalsbeginn am 11. November eines jeden Jahres um 11:11 Uhr sowie die Leitung einer jeden Karnevalsveranstaltung durch den Elferrat unterstreichen. Elf wird im Christentum als Zahl der Maßlosigkeit und der Sünde beschrieben. „Elf! Eine böse Zahl. Elf ist die Sünde. Elf überschreitet die zehn Gebote“, heißt es im Jahre 1800 in den „Piccolomini“ von Friedrich Schiller.


Auch Geheimbünde wie die Freimaurer lieben Zahlenmystik. So erscheint es nur konsequent, dass sich die englische „Football Association“ (FA) im Jahre 1863 in der Londoner „Freimaurertaverne (Freemason`s Tavern)“ konstituiere – und zwar durch Vertreter von genau elf Klubs und Schulen. Die federführende Beteiligung der hiesigen Loge am Gründungsakt ist heute unstrittig. Die Freunde der Freimaurerei sehen darin eine durchaus ehrenwerte Leistung. Immerhin suchte man in einer im 19. Jahrhundert zunehmend säkularisierten Gesellschaft und in einer Zeit, in der die Kirche an Anziehungskraft verlor, nach tragfähigen Konzepten, um Werte wie Gemeinschaft, Humanität, Toleranz, Gleichheit und Freiheit des Geistes durchzusetzen. In der gleichen Freimaurertaverne werden im Übrigen auch die „Royal Astronomical Society“ (1820) oder die „National Geographic Society“ (1888) ins Leben gerufen.


Es liegt somit nahe, die konspirative FA-Gründung genauer zu betrachten. Schließlich handelt es sich um nicht weniger als die Etablierung einer neuen Fußballweltordnung durch einen äußerst überschaubaren Personenkreis. Ab jenem Zeitpunkt hat der zuvor dezentral organisierte Sport erstmalig eine Obrigkeit sowie einheitliche Regeln. Von diesem folgenschweren Moment an existiert eine zentrale Verwaltung, die das Spiel namens „Association-Football“ landesweit überwacht und organisiert. Bis zum heutigen Tage geht im englischen Fußball praktisch nichts ohne diesen allerersten Verband.


Dass es bei einem derartigen Unterfangen neben philanthropischen mindestens ebenso gewichtige finanzielle Motive gab und gibt, belegen die traurigen Fakten. Laut Statista erzielt die FA vor allem mit Übertragungsrechten, Sponsorengeldern und Lizenzvergaben mittlerweile circa 450 Millionen britische Pfund im Jahr. Darüber hinaus hat die FA seit 1939 ausschließlich Präsidenten aus Kreisen der Feudalherrschaft; seit 2006 den designierten Thronfolger Prinz William. Es erschließt sich wohl nicht jedem Fußballfan auf der Insel, weshalb sein geliebter Sport die Führung eines Monarchen benötigt. Oder braucht eher die längst nicht mehr zeitgemäße, in weiten Teilen der Bevölkerung verrufene Monarchie das positive Image des Fußballs, um sich dem Volk plump anzubiedern?


Zur Ergänzung lohnt ein kurzer Blick auf den Rugby-Sport im Vereinten Königreich. Dieser genießt zwar lange nicht das sozioökonomische Momentum des zentralisierten und von höchsten Kreisen dirigierten Fußballs. Doch auch auf Rugby hat die königliche Familie kontinuierlichen Einfluss, wie das Patronat der „Rugby Football Union“ (RFU) von Prinzessin Kate seit Februar 2022 zeigt. Sie hatte das Amt von dem in Ungnade gefallenen Prinz Harry übernommen. In Bezug auf das Blockbuster-Produkt Fußball existieren beim Rugby jedoch signifikante Unterschiede.


Seit der Gründung der RFU sind unterschiedliche Meinungen und Konflikte an der Tagesordnung der Verbandsversammlungen und werden nicht unterdrückt. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wird im Rugby-Sport heftig darüber diskutiert, ob der Amateurgedanke aufrechterhalten werden soll oder die Zukunft in der Professionalisierung der Sportart liegt. Im Jahr 1895 kommt es zum Eklat und 21 Vereine verlassen die RFU. Diese primär den Arbeitervierteln Nordenglands entsprungenen Dissidenten gründeten kurzerhand selbst eine Liga – die „Rugby Football League“ (RFL). Die Trennung wird durch ein abweichendes Regelwerk sowie unterschiedliche Platz- und Teamgrößen zementiert. Außerdem erlaubt die neugegründete „Arbeiter-Liga“ eine Professionalisierung der Mannschaften, während die bürgerliche „Union“ es sich leisten kann, über 100 Jahre hinweg und bis 1995 stoisch am Amateurstatus festzuhalten.


Darüber hinaus existieren von Beginn an eigene Rugby-Verbände in Schottland, Irland, Wales, Neuseeland, Australien und in Südafrika, wo der Sport bis zum Ende der Apartheid nur von Weißen gespielt werden darf. Das „International Rugby Board“ sieht sich lange Zeit nur als Regelkommission. Die Wettbewerbe sind von den nationalen Verbänden selbst auszurichten und zu verwerten. Während die erste Fußball-Weltmeisterschaft bereits 1930 stattfindet, gibt es die Rugby-WM erst seit 1987. Aufgrund der großen Unterschiede in der Leistungsstärke spielen bis heute nur zehn Länder in der höchsten Klasse. An einer weltweiten Verbreitung des Sports wird gearbeitet, dies allerdings mit überschaubarem Erfolg.


Bei vergleichender Betrachtung der Verbandshistorien drängt sich die Hypothese auf, dass die frühe Zentralisation über die Football Association und anschließend über die FIFA in Paris im Jahre 1904 den Siegeszug des Fußballs gegenüber anderen, damals ebenso beliebten Ballsportarten wie Rugby oder auch Feldhandball, begünstigt hat. Diese waren zuvor längere Zeit in regionalen Verbänden mit teilweise sehr unterschiedlichen Regularien organisiert. Von immenser Wichtigkeit für den Erfolg des Fußballes ist auch das Involvieren zahlreicher finanzkräftiger Unterstützer wie dem niederländischen Bankier Carl Anton Wilhelm Hirschmann, der gleich zu Beginn in den Vorstand der FIFA aufgenommen wurde.


Durch die Verbindung zum Großkapital und die Zentralisierung der Machtapparate wurden bereits in der Entstehungsphase des Massensports Fußball die Grundsteine für jene Entwicklungen gelegt, die der Fußballfachmann Christoph Biermann in seinem 2022 erschienenen Buch „Um jeden Preis“ als Kommodifizierung bezeichnet. Der Begriff leitet sich vom englischen Wort „Commodity“ ab und steht für die vollständige Kapitalisierung eines Marktes, der noch nicht von institutionellen Investoren erschlossen wurde.


Einen wichtigen Schub erhielt diese Kommodifizierung des Fußballs während der desaströsen Liberalisierungspolitik der 1970er und vor allem 1980er Jahre. Das Vereinte Königreich ging als abstoßendes Beispiel voran. Die „eiserne Lady“, Margarete Thatcher, erklärte den Gewerkschaften, die für gerecht verteilten Wohlstand unverzichtbar sind, den Krieg und brach deren letzten Widerstand in den Jahren 1984 und 1985. Gleichzeitig liberalisierte Thatcher den Finanzmarkt und ermöglichte schamlose Spekulation sowohl mit privaten als auch öffentlichen Vermögen. So, wie es heute gang und gäbe ist. Wichtige Staatsbetriebe wurden den gierigen Börsen-Kartellen zum Fraß vorgeworfen. Voller Abwertung sprach Thatcher über die unteren Schichten als „Troublemakers“, denen sie das Leben möglichst schwer machen wollte. In einem Gespräch mit Helmut Kohl überboten sich die beide Spitzenpolitiker in Bezug auf ihre Menschenfeindlichkeit. Kohl versicherte, die Hälfte aller in Deutschland lebenden Türken, die als sogenannte „Gastarbeiter“ einen massiven Anteil am hohen Wohlstandsniveau Deutschlands haben, alsbald in ihr Heimatland zurückschicken zu wollen.

 

Während Ronald Reagan mit seiner ähnlich inhuman-neoliberalen Politik in den USA Massenarmut verursacht und im Schatten seiner „War on Drugs“-Propaganda die Crack-Epidemie planmäßig durch die Ghettos wütet, nehmen Arbeitslosigkeit, Armut und Frustration auch in England und Deutschland zu. Sie spiegeln sich brennglasartig in der rasch wachsenden Hooligan-Bewegung wider. Alkohol- und Gewaltexzesse bedeuten für die jungen Schlägergruppen Nervenkitzel. Ablenkung von ihren sinnlos erscheinenden Lebensumständen in Arbeitslosigkeit und Prekariat. Die Fußballstadien werden immer unsicherer und infolgedessen von immer weniger Menschen aufgesucht. Der Fußball steckt Ende der 1980er Jahre in einer schweren Krise.


Ein weiterer Grund für den Verfall ist die seit dem schleichenden Beginn der Kommodifizierung grassierende Korruption im Fußball. Diese wird in den Leitmedien oberflächlich wie unkritisch als Einflussnahme einzelner Krimineller dargestellt. Manches fliegt auf und wird von Gerichten konsequent sanktioniert. Mit der Verurteilung von Einzeltätern enden die Skandale und Affären. Hinter die Hochglanzfassade schaut kaum jemand.

Die infantile Annahme, es handele sich um Einzelfälle, entspricht den naiven Überzeugungen des DFB-Chefaufklärers Hans Kindermann Anfang der 1970-er Jahre: „Bestechungsversuche sind eine Phase in der Entwicklung des bezahlten Fußballs, (…) eine große Gefahr für den jungen Professionalismus. Das Überwinden des Skandals macht es unwahrscheinlich, dass es neue Manipulationen geben wird." Diese Zuversicht äußert er im Rahmen der Aufarbeitung des „Bundesliga-Skandals“ 1970/1971. 18 Spiele, beziehungsweise deren Ausgang, werden damals für die respektable Summe von über einer Million D-Mark gekauft.


Sechs Funktionäre, zwei Trainer und 53 Spieler von zehn der 18 Bundesligisten werden mit hohen Geldstrafen und lebenslangen Sperren sanktioniert. Es bleibt jedoch bis heute fraglich, ob das Ausmaß bekannt geworden wäre, wenn der Präsident des Absteigers „Offenbacher Kickers“ nicht all seine heimlichen Tonmitschnitte veröffentlicht hätte. Interessant ist ebenfalls, dass Hans Kindermann aufhörte zu recherchieren und Anzeigen zu erstatten, als die Vereine ihm drohen, im Gegenzug Funktionäre des DFB hinsichtlich möglicher Bestechungsvorgänge genauer unter die Lupe zu nehmen.

In seiner Abgründigkeit wird auch der Wett-Skandal um den Berliner Schiedsrichter Robert Hoyzer im Jahr 2005 von vielen Fußballanhängern unterschätzt und als „Malheur“ abgetan. Hoyzer war ihrer Meinung nach lediglich ein neuer, unerfahrener Schiedsrichter, der in einigen seiner 18 frühen Profispiele nicht nachvollziehbare Elfmeter und rote Karten pfiff. Allerdings ist damals selbst das Innenministerium alarmiert und vor der gekauften WM im Jahr 2006 sofort um Klarstellung bemüht. Es gehe hier um einen Fall, der angesichts von hunderten Spielen an einem Wochenende nicht überbewertet werden sollte, so die Behörde. Ein schwarzes Schaf dürfe nicht den Fußball generell in Misskredit bringen. Zudem zeige die Angelegenheit, dass die Selbstregulierungskräfte des Sports hervorragend funktionierten und Vorwürfen dieser Art ernsthaft nachgegangen werde. Blickt man auf Hoyzers Hintermänner kommen dahingehend jedoch berechtigte Zweifel auf. Bei den Dunkelmännern hinter Hoyzer handelt es sich um die kroatischen Sapina-Brüder und ihr weitreichendes Zocker-Netzwerk. Der „Navigator“, Ante Sapina, ist auch 2010 wieder in einen Manipulationsskandal verwickelt. Die Bochumer Staatsanwaltschaft hatte zu diesem Zeitpunkt auf 300 Seiten Ermittlungsakten knapp 200 verdächtige Spiele, vor allem in Asien, und jede Menge gekaufter Spieler sowie Funktionäre dokumentiert. Ante Sapina wird 2014 wegen 43 manipulierter Spiele zu fünf Jahren Haft verurteilt.


Auf ähnlichem Niveau wie das Sapina-Netzwerk agiert Dan Tan aus Singapur. Er manipulierte gemeinsam mit seinem Partner Wilson Raj Perumal 150 Spiele unter anderem in Italien, Finnland, Ungarn und Nigeria. Er saß für diese Vergehen bis 2019 sechs Jahre in Haft und trägt seitdem elektronische Fußfesseln. Perumal beschreibt die Vorgänge in seinem Buch „Kelong Kings“ detailliert. Die Enthüllungen werden im Nachgang von der FIFA bestätigt. Perumal nennt als größten „Erfolg“ seiner vielfältigen Einflussnahme auf Spitzenspiele die Qualifikationen von Honduras und Nigeria für die Weltmeisterschaft 2010, die ohne sein Zutun nicht möglich gewesen wären.


Es ist sehr wahrscheinlich, dass an jedem Wochenende in irgendeiner Weise große Organisationen mit krimineller Energie Einfluss auf Fußballspiele nehmen. Ein Skandalspiel wie im Jahre 2002, als Italien und Südkorea aufeinandertrafen, geleitet vom ecuadorianischen Schiedsrichter Byron Moreno, wird allerdings kaum ein zweites Mal stattfinden. Eine Farce. Acht Jahre später scheint das üppige Bestechungsgeld verbraucht. Moreno wird am Flughafen John F. Kennedy (New York, USA) mit sechs Kilogramm Heroin festgenommen. Er hatte den Stoff am Körper befestigt. Der in Südkorea von Moreno mitbetrogene Ausnahmetorwart Gianluigi Buffon weiß diesen Vorfall angemessen zu kommentieren als er sagt: „Sechs Kilo Drogen? Meines Erachtens hatte er sie schon 2002, aber nicht in der Unterwäsche, sondern im Körper.“


Die Zeiten derart öffentlichkeitswirksamen Betruges sind offensichtlich vorbei. Die Wettmafia geht mit der Zeit und hat ihr Geschäftsmodell modifiziert. Denn mit dem nun eingesetzten Videoschiedsrichter sowie unzähligen Kameras kann Betrug heute nur erfolgreich sein, wenn man mit subtileren Mitteln arbeitet. Ein gekaufter Trainer fällt weniger auf als ein gekaufter Torwart oder Schiedsrichter. Auch die so genannten „Ingame-Wetten“ bieten seit Jahren riesiges Manipulationspotenzial. Wem fällt schon auf, dass sich zum Beispiel irgendein Spieler als erster in der zweiten Hälfte der Partie eine unnötige gelbe Karte einfängt – weil der Stammgast einer Berliner Sportsbar darum gebeten hat.


So unsportlich und verzerrend diese Spielmanipulationen sind, sie sind nur ein Nebenkriegsschauplatz. Denn bei globaler Korruption im Spitzensport geht es nicht um die Beeinflussung von einzelnen Spielen und Veranstaltungen, sondern um die Übernahme der entscheidenden Sportorganisationen weltweit – mitsamt ihrer Vermarktungspotenziale. In diesem Zusammenhang ist sporthistorisch belegt, dass der frühere adidas-Chef Horst Dassler dieses Geschäftsmodell ersann, es implementierte und perfektionierte. Interessant diesbezüglich: Gerüchte um Dasslers biologische Abstammung halten sich bis heute hartnäckig. Doch ohne Vaterschafts- beziehungsweise DNA-Test wird zum Leidwesen der Boulevardmedien wohl niemals zu klären sein, ob seine damals erst 18-jährige Mutter Käthe ihn im Jahre 1935 mit Puma-Onkel Rudolf oder adidas-Vater Adolf zeugte.


Eine faktenbasierte Recherche kann neben Arbeiten von Autoren wie Thomas Kestner („Fifa-Mafia“) und Barbara Smits („Drei Streifen gegen Puma“) dank Peter Boeger auch auf Informationen des „Ministeriums für Staatssicherheit“ (Stasi) der DDR zurückgreifen, welches Dassler bis zu seinem frühen und plötzlichen Tod intensiv beobachtete. Seine Macht, Gier und sein Opportunismus werden von einem Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) wie folgt umschrieben: „Dassler selbst verfügt über ungeheure Mittel und Einfluss. Alle seine Aktionen dienen der Sicherung des Profits – nur deshalb hält er die Verbindung zu den Sozialisten, weil diese im Augenblick die spektakulärsten Leistungen haben“.


Die Gedanken eines Großunternehmers nach Couleur des Horst Dassler kreisen ausschließlich um Geld und Macht. Politische Spektren, Gesellschaftsmodelle, Corporate Governance oder der Umgang mit Völker- und Menschenrecht spielen keine Rolle. Das hat sich bis heute nicht geändert. Wenn es adidas nützt, setzt das Unternehmen sogar Regierungen unter Druck, um Mindestlöhne zu verhindern. So geschehen in den letzten Jahren in El Salvador und sogar China. Ohne mit der Wimper zu zucken droht Adidas-Chef Herbert Hainer der zweitgrößten Wirtschaftsmacht im Jahre 2014: „Wir müssen kaufmännisch denken und werden künftige Kapazitäten außerhalb Chinas aufbauen“.


Sein Vorgänger Horst Dassler hatte zeitlebens keine Skrupel, die Marke mit den drei Streifen in jedem Land ins rechte Licht medialer Aufmerksamkeit zu rücken. So stattete er über einhundert Terroristen und Terrorverdächtige aus dem Libanon mit seiner Sportbekleidung aus, bevor sie nach ihrer diplomatisch ausgehandelten Haftentlassung in Israel umjubelt aus dem Flugzeug in Beirut steigen durften. Ein weiteres Beispiel für frühes „Sportswashing“ – also ein Aufpolieren des eigenen Negativimages durch relevante Sportveranstaltungen – ist die Vereinbarung Dasslers mit der Militärjunta in Argentinien 1978, ihren beängstigenden Militär-, Polizei- und Geheimdienstapparat in den Städten und Stadien der Weltmeisterschaft vorübergehend nicht in Uniformen, sondern in sportlich wie zivil daherkommende adidas-Trainingsanzüge zu kleiden.


Wohlwissend um die Bedeutung des Sports im „Ostblock“, beherrschte Horst Dassler die russische Sprache verhandlungssicher. Sein globaler Einfluss wird deutlich, als im Jahre 1986 in einem von DDR und UDSSSR als streng geheim klassifizierten Dokument das Privatunternehmen adidas bedeutsamer als alle anderen Unternehmen und Sportverbände wie zum Beispiel das Olympische Komitee (IOC) oder die FIFA eingeordnet wird. Ein IM notiert: „Im Sport geht nichts ohne diesen Konzern, meiner Ansicht nach wird vieles getan, was diese Gruppe will“. Das bedeutete für die betreffenden Staaten im Osten, dass sie adidas beobachten und infiltrieren mussten, um Einfluss auf bedeutsame internationale Sportveranstaltungen sowie zuständige Verbände zu gewinnen.


Karl Heinz Wehr, alias „IM Möwe“, äußert dazu vor hochrangigen DDR-Funktionären die Vermutung, dass vier an die Staatssicherheit berichtende Personen in wichtigen sportpolitischen Funktionen von adidas nötig seien, um ausreichenden Einblick in die Vorhaben und Vorgehensweisen des Unternehmens und seiner 1982 gegründeten Sportmarketingagentur „International Sports and Leisure“ (ISL) zu erhalten. Wie so oft in derart konspirativen Kreisen wechselt „IM Möwe“ nach dem abgeschlossenen „Totalvertrag“ zwischen adidas und der DDR mit ein paar flinken Flügelschlägen die Seite und wird selbst Sportfunktionär. Er lässt sich 1986 laut eigenen Aussagen mit 200.000 D-Mark von Dassler auf den Posten des Generalsekretärs der „Internationalen Boxföderation“ (AIBA) setzen, deren Nachfolgeorganisation heute von der russischen Mafia unterwandert ist.


Dassler gilt unter den Menschen in seinem Umfeld als vollkommen paranoid. Er führte stets einen Wanzendetektor bei sich und stattete leitende Mitarbeiter mit falschen Pässen und Dokumenten aus. Sicher wusste er in Anbetracht seiner Geheimniskrämerei um die vielen Jahre Gefängnis, die ihm bei Bekanntwerden seiner Machenschaften in Aussicht standen. Die Abläufe der von ihm betriebenen „Sportpolitik“ im vollkommen rechtsfreien Raum gleichen sich über Jahrzehnte. Dassler führt eine Geheimkartei über alle wichtigen Funktionäre, inklusive Informationen zu deren Konfektionsgrößen, Vorlieben, Abneigungen sowie bevorzugten Frauentypen. Der Aufwand rentierte sich. Denn diese Personen hatten Befugnis, jahrelang geltende Exklusivverträge nach Belieben an ihre am besten zahlenden „Freunde“ zu vergeben. Mit einer Art „Turnschuh-CIA“ verbindet Dassler zu diesem Zweck seine Agentur mit dem jeweiligen Verband und zahlt Millionen von US-Dollar an Bestechungsgeldern. Hauptsächlich für günstige Verträge zu Verwertungs- und Übertragungspaketen, aber auch zum Stimmenkauf für genehme Kandidaten oder Veranstaltungsorte. Die erworbenen Marketing- und Medien-Rechte wurden anschließend mit erheblichem Gewinn an multinationale Kunden weiterverkauft. Der erste Großkunde im Jahre 1978 war Coca-Cola. Der Brausehersteller investierte etwas mehr als 300.000 US-Dollar. Hintergrund war der Wunsch von Coca-Cola, sein Produkt in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas in Zukunft nicht mehr nur als „Mitbringsel“ patrouillierender und mehrheitlich verhasster US-Soldaten wahrgenommen zu sehen. Man wollte dem Produkt ein positives wie unbelastetes Image kredenzen.


In den Vorstandetagen der Sportverbände hüllte man sich zu Dasslers „Schmierentheater“ in Schweigen, denn die Funktionäre waren zwecks Machterhalt auf sein Schwarzgeld angewiesen, um ihre eigenen Bestechungsoperationen finanzieren zu können. So etablierte sich ein bis heute vorherrschender, systematischer, von Unternehmen und Staaten finanzierter Korruptionsreigen im Spitzenfußball.


Bis zum Zerwürfnis Anfang der 1980er Jahre war Patrick Nally der mit Abstand engste Partner von Horst Dassler. Bis heute ist er umtriebig und präsentiert sich unter anderem als Präsident der „International Federation of Match Poker“ (IFMP) auf dem boomenden Online-Pokermarkt. Nally bringt das Geschäftsmodell von Horst Dassler prägnant auf den Punkt: „Horst hat immer und von Anfang an Leute gekauft“. Es gebe bei Verbänden wie der FIFA „keine Regierung, kein Publikum zur Überprüfung. Niemand weiß, wohin die Zahlungen gehen und was einzelne davon kriegen“. Dies liegt im Falle der FIFA und anderen Sportorganisationen mit Hauptsitz in der Schweiz auch an der Intransparenz des dortigen Verbands- und Vereinsrechts.

Der für das Unternehmen und sein Korruptionsnetzwerk in besagten Jahren äußerst wichtige und rasante Erfolg von adidas in Frankreich basiert zu einem großen Teil auf Dasslers Zusammenarbeit mit der von Alain Jaubert in seinem Buch „D wie Droge“ als „Französische Mafia“ bezeichneten Gruppe rechtsgerichteter Geschäftsleute. Eine große Zahl der von Dassler erworbenen Unternehmen laufen seit den 1970er Jahren unter einer Dachorganisation in der Schweiz zusammen. An der Spitze steht ein bedeutsames Mitglied der Gruppe – der Korse André Guelfi. Er ist gut betucht und neben seiner Motorsportkarriere auch für den französischen Geheimdienst in Algier tätig. Dort beteiligt er sich an der Umsetzung der „Französischen Doktrin“, das heißt der systematischen Bekämpfung von Widerstandsgruppen und Oppositionellen durch Militär, Polizei und Geheimdienste. Die Doktrin umfasst unter anderem die meist verdeckte, massenhafte Verhaftung, systematische Folter und illegale Tötung von verdächtigen Personen. Das so genannte „Verschwindenlassen“. Diese Doktrin findet in identischer Form im Rahmen der US-amerikanischen Interventionen in Südamerika Anwendung. Es ist der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass die Krankheit, an der Horst Dassler in einem Erlanger Krankenhaus mit nur 51 Jahren vorgeblich verstarb, nie explizit benannt wurde. Die Umstände seines Ablebens bleiben daher bis heute nebulös.


Abschließend veranschaulicht eine Auswahl der von Dassler korrumpierten Sportorganisationen unter Nennung des Beginns der jeweiligen Zusammenarbeit mit seiner Agentur ISL die Größe des korrupten Netzwerks:


1.      FIFA (Fußball) seit 1982

2.     UEFA (Fußball) seit 1982

3.     IOC (Olympia) seit 1983

4.     IAAF (Leichtathletik) seit 1983

5.     FIBA (Basketball) seit 1990

6.     FINA (Schwimmen) seit 1997

7.     CART (Motorsport) seit 1998

8.     ATP (Tennis) seit 1998


Mit kaum einem Funktionär verstand sich Dassler so gut wie mit Joao Havelange, der sich kurz vor der Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland mit so viel Geld auf den FIFA-Thron „putschte“, dass ihn der von ihm geleitete brasilianische Fußballverband mit einer halben Milliarde italienischer Lire vor der Privatinsolvenz bewahren musste. Das Äquivalent zu circa vier Millionen US-Dollar heutzutage.


Viele seiner Machenschaften scheint Havelange von seinem Vater übernommen zu haben, der ein skrupelloser Waffenhändler war. Auch Joao verkaufte noch ein Jahr vor seiner FIFA-Inthronisierung erwiesenermaßen 80.000 Granaten an den bolivianischen Diktator Hugo Banzer, der kurz darauf im Sinne der „Französischen Doktrin“ den hiesigen Bauernaufstand niederschlagen ließ und damit das „Massacre de Valle“ zu verantworten hat. Havelange Senior pflegte weltweite Kontakte und gehörte ganz zufällig, wie auch der berühmte Bankier J.P. Morgan, zu den vielen prominenten Titanic-Passagieren, die ein plötzlicher Sinneswandel ereilte, sodass sie die Überfahrt mit dem havarierenden Kreuzer schlussendlich doch nicht antraten.


Dieser Umstand bewahrt Faustin Havelange aber nicht vor einem frühen Tod. Er erlebt nicht mehr, wie sein Sohn eifrig Schwarzgeld an die Fußballverbände in Afrika und Asien verteilt und ihnen eine drastische Erhöhung der Teilnehmerzahlen an Fußballweltmeisterschaften verspricht, damit auch sie sich Hoffnung auf ein paar WM-Spiele machen können. Seine unerwartete Präsidentschaft führt beinahe zur Aufspaltung der FIFA sowie zu zwei konkurrierenden Weltmeisterschaftsformaten. Die Revolte wird jedoch mit einer immensen Menge Schwarzgeld unterbunden. Mit seinem Korruptionspartner und Schwiegersohn Ricardo Teixera treibt Joao Havelange Korruption und Selbstbereicherung in ungeahnten Ausmaßen. Die beiden kassieren laut Gerichtsurteil alleine von Dasslers ISL 41 Millionen Schweizer Franken.


Über die fragwürdigen Aktivitäten von Havelange könnte man ein ganzes Buch schreiben. Es soll jedoch an dieser Stelle mit dem Jahrhundertfußballer Diego Maradona geschlossen werden, der Havelange von Anfang an massiv kritisierte. Maradona beschwerte sich unter anderem über die unerträglichen Anstoßzeiten im Jahr 1986 im Gastgeberland Mexiko, das mit der Austragung die eigene Bevölkerung von der hohen Arbeitslosenquote, der radikal-liberalen Wende in der Politik und der Unterzeichnung des ausbeuterischen GATT-Abkommens ablenken wollte. 1990 bezeichnete Maradona Havelange als „Die Mafia“ und verweigerte ihm den Handschlag nach dem verlorenen WM-Endspiel. 1994 behauptete Maradona, Havelange hätte ihn trotz mangelnder Fitness aus Vermarktungsgründen zur Teilnahme an der Weltmeisterschaft in den USA überredet. Havelange hätte ihm versichert, dass er nicht auf Doping kontrolliert werde. Dann schnappte die Falle zu und Maradona wurde unter PR-Getümmel der Einnahme verbotener Substanzen überführt. Die FIFA präsentierte sich als konsequent agierende Anti-Doping-Organisation. Es ist an dieser Stelle vollkommen berechtigt, dem unsteten Lebemann Maradona bei einigen seiner Aussagen zu misstrauen. Aber eines ist sicher: Spätestens seit seiner Zeit beim SSC Neapel von 1984 bis 1991 weiß kaum jemand so genau wie er, was unter der Organisationsform „Mafia“ zu verstehen ist.


Auf Joao Havelange folgte Sepp Blatter, der die institutionelle Korruption des FIFA-Netzwerks mit Gefolgsleuten wie Finanzchef Julio Grondona und dem Leiter des Kontinentalverbands Concacaf Jack „The Ripper“ Warner mindestens ebenso skrupellos weiterführte wie Havelange. Auch Blatters Karriere beruht nicht auf Eigenleistung. Denn er wird im Sommer 1975 auf Initiative Horst Dasslers „Direktor für Entwicklungsprogramme“ bei der FIFA. Dafür gibt Blatter seinen Posten beim Schmuckhersteller „Longines“ auf. Sein Büro unterhielt Blatter für einige Jahre in der französischen adidas-Niederlassung und wurde dort auch direkt vom Unternehmen bezahlt. Abermals durch Förderung Dasslers arbeitet er von 1981 bis 1998 als FIFA-Generalsekretär. André Guelfi sagt dazu rückblickend: „Blatter sah zu Dassler auf wie zu einem Gott, weil er wusste, dass er ohne Dassler keine Chance hatte, den Job bei der FIFA zu bekommen“.


In diesen elitären Kreisen geht scheinbar nichts ohne die richtigen Seilschaften. Dassler sei Dank, kann Blatter auf zentralem Posten den „Big Bang“ des Fußballs im Jahre 1992 miterleben – die gleichzeitige Lancierung von „Champions League“ und „Premier League“, die dem globalen Fußball einen Attraktivitätsschub verschafft. Die neuen Wettbewerbsformate werden als exklusive Marketingevents konzipiert. Sie bringen den europäischen Topklubs einen wahren Geldsegen, der ihnen einen uneinholbaren Vorsprung vor dem Rest der inländischen Konkurrenz verschafft. Christoph Biermann schildert in seinem Buch ausführlich, wie die Fernsehgelder nach dem „Big Bang“ in Milliardenhöhe fließen, weil neben dem bisher exklusiv übertragenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk nun auch Privatsender wie RTL oder Pay-TV-Sender wie Sky und Premiere um die Übertragungsrechte kämpfen. Zu den liberal-konservativen Zeiten Helmut Kohls werden private Sender bewusst hofiert und finanziert, da sie gesellschaftspolitische Themen verstärkt ausklammern. Sie werden schließlich von Unternehmen finanziert und vertreten so zwangsläufig eine eher angebotsorientierte, liberale und kapitalistische Programmatik.


Die Planung der „Champions-League“ als Ablösung des „Pokals der Landesmeister“ durch die ehemaligen ISL-Mitarbeiter Klaus Hempel und Jürgen Lenz ist eine perfekte Fallstudie dafür, wie elitäre Zirkel von der Öffentlichkeit unbemerkt im Hintergrund die Fäden ziehen. Es muss fast schon als Verletzung des Codex betrachtet werden, wenn eine zentrale Figur wie Klaus Hempel dem Tagesspiegel 2015 ein vierstündiges Interview gibt und seine Sicht der Dinge offenlegt – eine Perspektive, die mit der Wahrheit leidlich wenig gemein hat.


Schon das Setting des Interviews ist eine Farce. Wie selbstverständlich lädt Hempel die Journalisten in den Club „Baur au Lac“, einen exklusiven wie kostspieligen Herrenclub am Zürichsee. Daneben befindet sich das Hotel „Baur au Lac“, in dem Funktionäre, Unternehmensvertreter, Politiker und andere dunkle Gestalten seit Ende der 1970er Jahre fußballbezogene Verträge über Millionen und Milliarden unterzeichnen. Es mutet kurios an, dass genau aus diesem Hotel wenige Tage nach Hempels Interview ranghohe FIFA-Funktionäre von der Polizei zum Verhör abgeführt werden. Die Vorwürfe lauten auf Geldwäsche, Betrug und Bestechung und münden in einer Vielzahl von Strafen und Sperren.


Natürlich zeichnet Hempel von sich selbst das Bild des integren Managers, der mit den Machenschaften im Hotel nebenan nichts zu tun hat. Außer eben zufällig auch bevorzugt dort zu dinieren. In die Legendenbildung rund um seine eigene Person bezieht er seinen Ziehvater Horst Dassler mit ein. Dassler getroffen zu haben, sei ein „Schlüsselerlebnis“ gewesen. Er habe „viel von ihm gelernt“. Nach der vorgängig dargelegten Faktenlage wird damit in erster Linie die Etablierung eines globalen Korruptionsnetzwerks im Spitzensport gemeint sein. Doch da der uninformierte Interviewer nicht nachhakt, suggeriert der resultierende Artikel, dass die Korruption erst nach Hempels Weggang von ISL im Jahr 1991 zum Problem geworden sei. Dass die Insolvenz von ISL im Jahr 2001 in erster Linie die Selbstbereicherung von Dassler-Intimus Havelange zu Tage fördert, wird dreist verschwiegen.

Hempel scheint ein Meister der kommunikativen Irreführung zu sein. Er stellte den von 1990 bis 2007 amtierenden UEFA-Präsidenten Lennart Johansson als „Good Cop“ dar, mit dem er erfolgreich und gerne zusammenarbeitete. Dies war wichtig, um sich vom zum Zeitpunkt des Interviews längst öffentlich diskreditierten „Bad Cop“ Blatter distanzieren zu können. Voller Stolz berichtete Hempel in der Folge von seinem mutigen „Blatter-Widerstand“. So lehnte er aus Gründen möglicher Interessenkonflikte die Einstellung von Blatters Tochter bei ISL ab, was dessen Zorn schürte. Ob Blatters Reaktion so ausfiel, darf bezweifelt werden, da seine Tochter stattdessen einen hervorragenden Job direkt in der adidas-Zentrale erhielt. Es ist kaum vorstellbar, dass Hempel und sein Kompagnon Lenz jemals ein schlechtes Verhältnis zu dem seit 1975 eng mit ihrem Chef und Vorbild Horst Dassler zusammenarbeitenden Blatter hatten. Denn im Falle eines Konfliktes mit Dassler hätten beide beruflich kaum reüssiert.


Wer ein solches Kartenhaus errichtet, um sich medial ins rechte Licht zu rücken, macht misstrauisch. Dies trifft bei Hempel auch in Bezug auf seine Version der Geschichte über die Entstehung der Champions League zu. Diese soll nach Hempels Angaben das Ergebnis einer Verkettung unzähliger Zufälle sein. So wählte der angeblich integre Johannson zufällig die beiden Hauptmitarbeiter des bis dato korruptesten Sportmarketingunternehmens ISL aus, um den Europapokal der Landesmeister zu reformieren, da die Topclubs mit der Gründung einer eigenen Liga ohne den UEFA-Verband drohten. Zufällig entwickeln Hempel und Lenz rasant und ganz allein in einem Sporthotel das gesamte Konzept mitsamt des Markennamens, der Hymne, des Sternenbanners und des Dress-Codes. Am wichtigsten ist bei ihrem Konzept, so Hempel, dass Fußball in der neuen Champions League anders wirken soll. Nicht mehr als Sport der Arbeiterklasse.


Zufällig setzt sich das Konzept der beiden im Pitch gegen sechs andere Konzepte durch. Zufällig kommt Johannson anschließend mit der vorher nicht artikulierten Forderung um die Ecke, dass die beiden Konzeptentwickler auch das finanzielle Risiko der Veranstaltung für die ersten zwei Jahre übernehmen müssten. Dass sich die vom Konzept offensichtlich überzeugte UEFA sowie ihre Mitgliedsverbände dieses Mal nicht selbst bei Banken, Versicherungen und Konzernen um Absicherung bemühen, scheint ein weiterer Zufall zu sein. So kümmerten sich Hempel und Lenz 1991 selbst um die geforderte Bürgschaft in der für damalige Zeiten sagenhaften Höhe von 150 Millionen Schweizer Franken. Dafür kontaktierten sie einen Hamburger Rechtsanwalt, der ihnen wiederum den Kontakt zu Arend Oetker vermittelte, einen reichen Unternehmersohn und Schwartau-Boss. Dieser wird mit der Aussage zitiert: „Meine Herren, das interessiert mich. Ich rufe mal meinen Ex-Schwiegervater an, der kennt sich mit Fußball besser aus“. Damit ist Otto Wolff von Amerongen gemeint. Kurz darauf weist die besagte Bürgschaft eine Unterschrift aus, die für Solvenz steht, und für die sich die UEFA schon bald mit satten Gewinnausschüttungen bedankt.


Die Biografien und Netzwerke von Oetker und von Wolff von Amerongen sind vielfältig beschrieben, unter anderem von Werner Rügemer in der Dokumentation „Hehler für Hitler“. Als Kriegsprofiteur leitete Otto Wolff von Amerongen in den 1960er Jahren mit der Wolff-Gruppe nach Krupp und Flick das drittreichste Familienunternehmen Deutschlands. 1971 wurde Amerongen als erster Deutscher in den Vorstand des Öl-Konzerns Exxon berufen. Er war Präsident des „Deutschen Industrie- und Handelstages“, Mitglied des Präsidiums der „Europa-Union“ Deutschlands und gehörte zum inneren Kreis der Bilderberg-Gruppe. Im Ruhestand wurde er in vielen Organisationen zum Ehrenpräsidenten ernannt, zum Beispiel in der „Deutschen Olympischen Gesellschaft“ und der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“.


Diese Informationen erlauben es, Spekulationen hinsichtlich einer anderen Geschichte in Bezug auf die Champions League-Entstehung anzustellen. Dafür gilt es, einen Rückblick zu wagen. Denn schon 1991, nach eher kurzer Freude über die Wiedervereinigung, zeichnet sich ab, dass die deutsche Einheit zu erheblichen Wohlstandsverlusten und sozialem Unfrieden führen könnte. Vielen Menschen in der ehemaligen DDR wird mit der brutalen Abwicklung ihrer Betriebe und Arbeitsplätze durch die „Treuhand“ die Existenzgrundlage entzogen. Die Wut der Betroffenen entlädt sich in Brandanschlägen auf Asylbewerberheime und sonstigen Gewaltexzessen. Die Stimmung in Deutschland ist hochexplosiv.


Angesichts eines derartigen sozialen Umfelds ist es denkbar, dass führende Köpfe aus Politik und Wirtschaft Strategien psychologischer Kriegsführung anwendeten, um die Bevölkerung zu sedieren. Medial. Über das Fernsehgerät. Doch zusätzlich benötigte Sender waren kostenintensiv und verlangten ein packendes Programm mit Einschaltquoten, die für Unternehmen zwecks Werbung Relevanz haben. Es ist bekannt, dass einen Großteil der männlichen Bevölkerung kaum etwas stärker an die Flimmerkiste fesselt als Fußball. Mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt zog es der Machtapparat offensichtlich vor, diese Zielgruppe auf der heimischen Couch zu sehen als auf der Straße. Die hypnotische Wirkung des TV befördert die Lethargie und zunehmende Deevolution der Massen. Und da sind noch andere Vorteile, die der neue Ligawettbewerb für Champions mit sich bringt. Alle zwei Wochen erscheint die geeinte Elite der europäischen Sportgemeinschaft in den Wohnzimmer der EU-Bürger. Durch den Imagetransfer über das verbindende Element des Fußballs kann so ein unterbewusst unkritisches Bild auf die Europäische Union und ihre undemokratischen Gremien gefördert werden. Derartige Kampagnen trugen sicher dazu bei, nur knapp zehn Jahre später ohne großen Widerstand die Nationalwährungen einzustampfen und durch die neue Gemeinschaftswährung Euro ersetzen zu können.


Letztlich geht es immer um Geld. Dass die Möglichkeiten der Fußballvermarktung mit dem gleichzeitigen Ausbau des Fernsehangebots über ein viele Spiele umfassendes Hochglanzformat ein Milliardengeschäft bedeutet, war jedem Fußballfachmann schon Anfang der 1990er Jahre klar. Otto Wolff von Amerongen war somit alles andere als ein risikofreudiger Spekulant. Allein die Tatsache, dass sich Hempel und Lenz nicht um einen zweiten Partner bemühten, zeigt eindeutig, dass Persönlichkeiten wie Amerongen als Geschäftspartner „alternativlos“ sind. Es spricht vieles dafür, dass Wolff von Amerongen aktiv auf Johannson, Hempel und Lenz zuging. Diese fungierten in der Folge als Strohmänner, die das Konzept zu entwickeln, umzusetzen und zu verteidigen beauftragt waren. All das bleibt ausdrücklich Spekulation – der in Köln begrabene Amerongen hat möglicherweise nur gutgläubig und ohne doppelten Boden eine Unterschrift beigesteuert und alles war Zufall. Fest steht aber, dass die Einführung der Champions League und die zeitgleich aufgebauten Privatsender eine massive Veränderung des Fußballs als Profisport und Geschäftsmodell sowie der Gesellschaft nach sich zogen.


Und diese Veränderungen betrachtet nicht nur Christoph Biermann aus Sicht der Fußballanhänger äußerst kritisch. Während eine kleine Anzahl von Vereinen zwischenzeitlich Rekordumsätze erzielt, kämpfen vor allem Zweit- und Drittligisten um das wirtschaftliche Überleben oder gehen Konkurs. Zwielichtige Investoren nutzen die Notlagen um Vereinsanteile zu erwerben, was oft genug den endgültigen Untergang der Traditionsclubs bedeutet. In Deutschland ist der Fußballbund recht stolz auf die sogenannte „50 plus 1-Regel“. Diese besagt, dass die Mehrheit an einer ausgelagerten Profifußballgesellschaft dem zugehörigen Verein gehören soll. Für die Vereine in Leverkusen, Wolfsburg und Hoffenheim gelten jedoch Sonderregelungen. In Leipzig hat es ein bekannter Energy-Drink-Konzern besonders schlau eingefädelt. Der Verein besteht laut Satzung nur aus 21 Mitgliedern, die allesamt zum Unternehmen gehören müssen. So ist die gut gemeinte Regel schon heute fragwürdig und wird möglicherweise in Zukunft juristisch gekippt. Wer danach Eigentümer der deutschen Vereine wird, kann in Frankreich oder England bereits seit vielen Jahren beobachtet werden.


Auch das Spielerverhalten ist als fragwürdig zu bezeichnen. Denn der „Big Bang“ durch Champions League und Premier League spült jede Menge Geld in einen Markt, der zur gleichen Zeit dereguliert wird. So dürfen keine Ablösesummen mehr für Spieler verlangt werden, wenn der Vertrag mit ihnen ausgelaufen ist. Dies führt zu immer kürzeren Verweildauern der Spieler bei einem Verein und dem heute üblichen „Söldnertum“. Auch die Begrenzung von Nicht-EU-Spielern pro Mannschaft ist von EU-Gerichten längst abgeschafft.


Gerne wird die Schuld an der geringen Identifikationstiefe von Fans und Spielern den Beratern und Agenten zugeschoben. Dabei werden diese von den Profis selbst ausgesucht. Warum ihre Wahl auf Charaktere wie Jorge Mendes, Kia Joorabchian oder Mino Raiola fällt, können wohl nur Psychologen klären. Der Italo-Holländer Raiola schaffte es durch sein Verhalten, von einem Gentleman wie Alex Ferguson wegen des raffgierigen Pogba-Deals „Scheißkerl“ genannt zu werden. Raiola konnte seine Provision in Höhe von 49 Millionen Euro im Anschluss an die Vertragsunterzeichnung allerdings nur noch fünf Jahre lang genießen, bevor er mit 54 Jahren verstirbt.


Doch zurück zur FIFA in die Schweiz. Die Stimmung ist dort in den 1990er Jahren regelrecht euphorisch. Vor allem aufgrund der Pay-TV-Giganten, die viel Geld abwerfen. Rupert Murdoch treibt mit seinem Geschäftsgebaren den gesamten Markt an den Abgrund. Im Jahr 2000 kommt es zum großen Crash des Kirch-Premiere-Imperiums, in dessen Sog ein Jahr später auch Dasslers „Baby“ ISL mit 234 Millionen Euro Unternehmenswert untergeht. Offizielle Gutachten der späteren Gerichtsprozesse belegen, dass die ISL allein in der Zeit von 1989 bis 2001 insgesamt 115 Millionen Euro an die Mächtigen des Sports verteilen ließ. Im Zuge der Ermittlungen gerät auch Blatter das erste Mal massiv unter Beschuss. Generalsekretär Michel Zen-Ruffinen wird allerdings umgehend entlassen, nachdem er sich kritisch zum Missmanagement Blatters geäußert hatte. Als im Jahr 2010 das ISL-Verfahren eingestellt wurde, bat die Justiz die FIFA mit 2,5 Millionen Schweizer Franken zur Kasse. Weil sie die Ermittlungen nicht unterstützte, ist sie vom Opfer zur Beschuldigten geworden. Mit der geleisteten Sanktionszahlung akzeptierte die FIFA alle Vorwürfe.


Aktuell befindet sich Blatter gemeinsam mit Michel Platini in einem langwierigen Strafrechtsprozess. Nachdem die beiden Mitte 2022 in erster Instanz freigesprochen wurden, jubeln die uninformierten Leitmedien, so wie das ZDF, und titeln: „Blatter und Platini sind rehabilitiert“. Es sei nicht zu belegen, dass Blatter dem Franzosen 2011 unrechtmäßig eine Millionenzahlung zugeschanzt habe. Blatter und Platini stehen gar Entschädigungen von insgesamt mehr als 220.000 Euro zu, die von beiden ungeniert angenommen wurden. Ihre jahrzehntelange, von Hassliebe geprägte Beziehung, ist vielfach dokumentiert. So ist unumstritten, dass Platini für eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen FIFA und UEFA von 1998 bis 2002 einen Beratervertrag mit Blatter während dessen erster Amtszeit hatte. Statt der schriftlich vereinbarten 300.000 Schweizer Franken pro Jahr erhält Platini aber rund zwei Millionen Franken für zwei Jahre. Beide versichern eidesstattlich, sie hätten diese erhöhte Vergütung mündlich ohne Zeugen vereinbart. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Denn im Oktober 2022 geht die Staatsanwaltschaft in Berufung. Ein neuer Prozess ist für Mitte 2023 geplant.


Leider ist das Vertrauen in die juristischen Gegenspieler der FIFA in den Kreisen kritischer Beobachter stark erschüttert. Das gilt vor allem für Loretta Lynch. Die US-Justizministerin von 2015 bis 2017 verschreibt sich zu Beginn ihrer Amtszeit noch mit Vehemenz dem Kampf gegen die weltweiten Korruptionspraktiken der FIFA, vor allem in Südamerika. Ihre „FIFA-Gate“-Ermittlungen sorgen 2015 dafür, dass UEFA-Chef-Platini und sieben FIFA-Funktionäre in Gewahrsam genommen und mit Strafen belegt werden. Michel Platini und Sepp Blatter werden daraufhin von ihren Verbänden jahrelang gesperrt. 2019 schlägt die US-Justiz, auf Lynchs Vorarbeit aufbauend, wieder mit aller Härte zu. Dieses Mal beschuldigt sie zehn amtierende und ehemalige Mitglieder des Exekutiv-Komitees der FIFA der Korruption. Darunter, wenig verwunderlich, auch Havelange-Schwiegersohn Ricardo Teixera und Jack „The Ripper“ Warner. Die Urteile stehen noch aus, doch der FIFA wurden bereits Schadensersatzansprüche über 201 Millionen Dollar in Aussicht gestellt. Die gesamte Schadenssumme aller Geschädigten beläuft sich derzeit auf 471 Millionen Dollar.


Dies sollte dennoch kein Grund für Euphorie sein, denn langjährige Beobachter teilen die Erkenntnis, dass der Hydra namens „Fußball-Mafia“ mit jedem abgeschlagenen Kopf zehn neue wachsen. Sämtliche Urteile bleiben letztendlich hinter den Erwartungen zurück. Oder man einigt sich außergerichtlich. Auch Chefanklägerin Loretta Lynch hat mittlerweile die Seiten gewechselt. Sie steigt in der kritischen Phase im Jahr 2019 als Partnerin bei der internationalen Anwaltskanzlei „Paul Weiss“ ein, die ebenfalls seit 2019 als Rechtsvertretung der FIFA operiert, nachdem diese sich von ihrer zuvor beauftragten Kanzlei „Quinn Emanuel“ trennte.


Die Kooperation von FIFA und Lynch umfasst neben juristischem Beistand auch die Öffentlichkeitsarbeit. Lynch tritt 2020 als Keynote-Sprecherin mit FIFA-Präsident Gianni Infantino auf dem dritten Compliance-Gipfel der FIFA auf, einem Kongress zu Themen der Geschäftsethik im Fußball. Kenner vermuten, die Strategie der aktuellen FIFA-Führung sei, die Hauptschuld am desolaten Image den früheren Funktionären in die Schuhe zu schieben. Dies dürfte kaum gelingen, da Infantino selbst massiv in der Kritik steht. Gegen ihn laufen, wie auch gegen den zurückgetretenen Bundesanwalt Michael Lauber, Strafermittlungen aufgrund mysteriöser Geheimtreffen, deren konspirative Resultate mehrere Strafverfahren behinderten. Durch ihren unerlaubten Austausch konnten Manchester City und Paris Saint Germain gewarnt und vor Strafverfahren bewahrt werden. Die Vorwürfe reichen von Amtsmissbrauch und Begünstigung bis hin zur Anstiftung zu Straftaten. Ganz nebenbei geht es bei der Anklage gegen Infantino auch um einen Compliance-Fall. Nämlich um eine 200.000 Euro kostende Dienstreise mit einem Privatjet im Jahr 2017, die nach Aktenlage des FIFA-Governance-Chef Tomaz Vesel auf einer glatten Lüge basiert.


Für an Aufklärung interessierte Fußballfans entpuppten sich die Juristen Lauber und Lynch als schockierende Enttäuschungen. Darüber hinaus wurden die durchaus kritischen FIFA-Ethik-Kommissare Hans-Joachim Eckert und Cornel Borbely auf dem Kongress 2017 in Bahrain durch den Eurokraten und ehemaligen griechischen Innenminister Vasilios Skouris ersetzt. Unter den Juristen wurden die gefährlichsten Kritiker also entweder entmachtet oder sind ins Team der FIFA gewechselt. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Eckert, dass Borbely nach 70 abgeschlossenen Verfahren gegen FIFA-Funktionäre noch in mindestens 100 weiteren Fällen ermittelt hätte. Auch die eingestandenen 800.000 Euro Schmiergeld, die der Funktionär Richard Lai angenommen hatte, förderten weitere Indizien zu Tage. Spuren gab es genug. Vor allem Scheich Al-Ahmad Al-Sabah, der Neffe des kuwaitischen Emirs, der seit Jahren enormen Einfluss auf die Geschicke internationaler Sportverbände ausübt, geriet dadurch ins Visier der Ermittler, bevor diese kurzerhand abgesetzt wurden.


Angesichts des heutzutage unüberschaubaren Netzwerks, dem Ausmaß und Umfang der Korruptionsdelikte, ist es nur möglich einzelne Schlaglichter zu setzen. In diesem Zuge ist Rui Pinto näher zu beleuchten, der eine weitere Parallele zwischen Weltpolitik im Allgemeinen und Fußballpolitik im Speziellen zu ziehen erlaubt. Inspiriert von Edward Snowden und Julian Assange veröffentlicht der junge Pinto ab 2015 circa 70 Millionen Geheimdokumente. Zu seinen Motiven sagt der Portugiese:


„Ich bin seit Kindesbeinen Fußballfan, habe aber früh kapiert, dass sich der Fußball in eine völlig falsche Richtung entwickelt. Die besten jungen Spieler wandern zu Spitzenteams ab, der gesamte Wettbewerb verschob sich zugunsten der Topvereine. Der Hauptauslöser war dann 2015 der FIFA-Gate-Skandal. Parallel zu den Verhandlungen beim Weltverband sah ich, dass es bei zahlreichen Transfers in Portugal zu Unstimmigkeiten gekommen war. Dass immer mehr Investoren in den Markt drängten. Ich fing an Daten zu sammeln.“


Wie im Fall Assange kommt seine wahre Identität schnell ans Licht. Derzeit befindet er sich unter verschärfen Bedingungen in Haft. Ihm wird zur Last gelegt, sich unter falschem Namen und zu Beginn seiner Arbeit an den Manager Nélio Lucas vom Sportmarketingunternehmen „Doyen Sports“ gewandt zu haben, um ihm Dokumentenausschnitte zu übersenden. Der damals 26-Jährige fragte nach dem Wert dieser Dokumente, was ihm bis heute als Erpressungsversuch angelastet wird. Dabei floss erwiesenermaßen nie Geld. Hier greift einmal mehr das klassische Schema der Täter-Opfer-Umkehr internationaler Generalstaatsanwaltschaften. So, wie es auch bei den unhaltbaren Vergewaltigungsvorwürfen gegen Julian Assange der Fall war.


Mit wem sich Pinto da anlegt, schildert Rafael Buschmann mit seinem Investigativ-Team im SPIEGEL. Es handelt sich um den kasachischen Arifow-Klan, der sich seit dem Umzug in die Türkei nur noch Arif nennt. Das Vermögen der drei Brüder Rustem, Tewfik und Refik basiert auf günstig erworbenen Rohstoffquellen wie der Chemiefabrik von Aqtöbe. Schon damals haben sie zum Schaden des kasachischen Staates nachweislich 300 Millionen Euro unterschlagen, was aber zu keiner Zeit Einfluss auf die hervorragenden Beziehungen zu Präsident Nazarbajew hatte. So konnten sie ihr Geschäft kontinuierlich ausweiten und sich bei Bedarf gar minderjährige Prostituierte aus Russland einfliegen lassen. Neben dem Chemiesektor lag das Hauptaugenmerk ihrer unternehmerischen Umtriebe in der Hotel- und Baubranche. Sie arbeiteten dabei unter anderem eng mit Donald Trump zusammen, der als Partner beim Bau eines Einkaufszentrums in Brooklyn fungierte. Vor allem in ihrem Heimatland erzielten sie mit den Reuben-Brüdern, Hungerlöhnen, Raubbau an der Natur und ruchlosen Geschäftspraktiken riesige Gewinne. Die Brüder David und Simon Reuben sind in Indien geborene Briten mit irakisch-jüdischen Wurzeln. Ihre Familie gilt mit 21 Milliarden Pfund als die zweitreichste in Großbritannien, gleich nach der Familie von Len Blavatnik mit einem Vermögen von 23 Milliarden Pfund. Die Reubens haben sich als selbsternannte Philanthropen in den letzten Jahren ein auf Klimawandel, künstliche Intelligenz und Zellvitalität fokussiertes Oxford-College sowie den Fußballklub „Newcastle United“ zugelegt, an dem sie seit 2021 allerdings nur noch mit zehn Prozent beteiligt sind. Sie übergaben das Ruder für 300 Millionen Pfund an den saudischen Staatsfonds.


Vielleicht hat die gute Verbindung zu den Reubens ihren Teil dazu beigetragen, dass die umtriebigen Arifows ihren Sprössling, Arif Arifow, nun seit einigen Jahren mit dem Unternehmen „Doyen Sports“ und jeder Menge zwielichtigem Kapital auf die Fußballwelt losgelassen haben. Buschmann schildert mit Zitaten, wie Arif Arifow und Nélio Lucas über die von ihnen gekauften Spieler denken. Rassistische und herabsetzende Konversationen nach Machart: „Bitch. Der Nigger macht Geld für uns“, schockieren. Dank Pinto erhält man darüber hinaus Einblicke in „Doyen Sports“-Verträge, in denen Spieler wie Leibeigene behandelt werden. Auch dank seiner Enthüllungen ist das sogenannte TPO, also der Drittparteien-Einfluss auf die Vertragsgestaltung durch Reglementierungen etwas zurückgedrängt worden. Selbstverständlich wird er aber auf anderen Wegen, zum Beispiel mittels Third Party Investment, weiterhin goutiert. Letztlich interessiert man sich in diesen Kreisen kaum für die Justiz. „Doyen Sports“ ist ein Konglomerat von Offshore-Firmen, mal auf Malta, mal auf den Britischen Jungferninseln, mal in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Briefkastenfirmen werden gegründet und wieder aufgelöst. Nélio Lucas formulierte das Ziel in einer Mail an an Arif Arifow deutlich: „Wir müssen eine Struktur aufbauen, um uns und die Firma zu schützen, damit keiner irgendetwas über uns herausfindet“. Den holländischen Verein „Twente Enschede“ hätte die intensive Zusammenarbeit mit „Doyen Sports“ beinahe die Existenz gekostet.


Rui Pinto gebührt also die Ehre, der superreichen Fußballmafia das Leben schwergemacht und dabei sogar Helden vom Sockel gestoßen zu haben. So muss wegen ihm auch Superstar Christiano Ronaldo im Jahr 2019 fast 19 Millionen Euro zahlen und wird aufgrund von Steuerhinterziehung zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Mesut Özil kann einer Vorstrafe aufgrund der Informationen aus den „Football Leaks“ in letzter Sekunde und mit der Zahlung von über zwei Millionen Euro entgehen. Lionel Messi hat es als „Gott von Barcelona“ noch am besten getroffen. Der Verein übernimmt 2017 seine zwölf Millionen Euro Steuerschuld. Das ansässige Gericht belässt es bei einer Geldstrafe von lächerlichen 252.000 Euro. Rechtskräftig vorbestraft ist Messi nun aber trotzdem. Genau wie sein ewiger Rivale Ronaldo. Ein weiterer großer Erfolg des Whistleblowers ist die Bekanntmachung der bereits genannten Geheimtreffen von Infantino und Lauber in Bezug auf Verstöße gegen das Financial Fairplay.


Bleibt die Frage: Wem gehört der Fußball? Denn viele am Fußball beteiligte Parteien sind heute um ein Vielfaches mächtiger als die korrumpierten Funktionäre. Und vielleicht sogar mächtiger als manche der händeringend nach Investoren suchenden Staaten, in denen sie immer mehr Vereine und Spieler erwerben. Viele dieser Autokraten, Oligarchen und Superreichen erwirtschaften ihr Vermögen bevorzugt außerhalb funktionierender Steuer- und Rechtssysteme. Entsprechend wohl scheinen sie sich in der Fußballwelt zu fühlen, wo sie einen zunehmend desaströsen Einfluss ausüben.

Dies trifft auch auf die Surkis-Brüder aus der Ukraine zu. Sie sind dafür verantwortlich, dass die UEFA von 2004 bis 2019 alle Gelder für die ukrainischen Vereine und ukrainischen Verband an eine einzige Briefkastenfirma namens „Newport Management Limited“ mit Sitz auf den Britischen Jungferninseln überwies. Die Verbindung erfordert keine Recherche. Denn Grigori Surkis war bis 1998 Präsident von „Dynamo Kiew“ und machte bis 2019 eine steile Karriere in der UEFA. Er war zeitweise sogar Vizepräsident der FIFA. Sein Bruder, Igor Surkis, führt derweil „Dynamo Kiew“ weiter und nimmt die Überweisungen an die „Newport Management Limited“ entgegen. Mit diesem Geld wird unter anderem die EM 2012 in der Ukraine für elf Millionen Euro gekauft. Fünf Jahre nach der Veranstaltung wird auch der damalige DFB-Präsident Reinhard Grindel von Grigori bedacht. Angeblich nur mit einer Armbanduhr im Wert von 11.800 Euro. Für Grindel stellt sich jedoch keine lang anhaltende Freude ein, da der Vorgang an die Öffentlichkeit kommt und ihn seinen Posten kostet.


Im Jahr 2022 stehen die Surkis-Brüder wieder in den Schlagzeilen. Denn gleich zu Beginn des Krieges um den Donbass und angrenzende Gebiete setzen sich die kriminellen Brüder ab. Das Nachrichtenportal „Ukrainska Prawda“ berichtete, dass sie bereits am 26. Februar 2022 mit schweren Limousinen und großer Gefolgschaft um kurz vor Mitternacht nach Ungarn gelangten. Dazu liegen Dokumente des ungarischen Grenzschutzes vor. Die beiden Brüder sollen 17,6 Millionen Dollar Bargeld bei sich gehabt haben. Wer sich mit der Ukraine beschäftigt, weiß spätestens seit dem Strache-Ibiza-Skandal in Österreich und den Pandora-Papers, dass dort seit Jahren Milliardensummen von Oligarchen illegal außer Landes geschafft werden. Wie es am besten funktioniert, macht Präsident Wolodymyr Selenskij mit seiner Offshore-Company „Kwartal 95“ vor. Laut Pandora-Papers gehen dort, ganz unaufgeregt, Zahlungen in Höhe von bis zu 41 Millionen Euro ein. Dieses Geld dient allein dem Privatvergnügen des Präsidenten. Zur Bestechung der weltweiten Fußballverbände zwecks Austragung der WM 2030 in der Ukraine wird ein anderes Briefkastenkonto Verwendung finden müssen.


Die Ukraine hält in Sachen Fußballkorruption aktuell den zweiten Platz hinter dem Korruptionschampion Katar. Zwischen dem Scheichtum und UEFA-Chef Michel Platini kam es im Jahr 2010 zum entscheidenden Deal. Als Gegenleistung für die WM-Vergabe 2022 müssen die Scheichs die französische Liga und vor allem den französischen Top-Club „Paris Saint Germain“ unterstützen. Dafür treffen sich Vertreter des Scheichtums um Nasser Al-Khelaifi am 23. November 2010 mit Michel Platini, Frankreichs damaligem Ministerpräsident Sarkozy sowie den Club-Investoren. Nasser Al-Khelaifi übernimmt den Pariser Club daraufhin zu 70 Prozent und finanziert als Sportchef des Senders „Al Dschassira“ die internationalen Rechte für die französische Liga im Wert von knapp 200 Millionen Euro. Neun Tage später, am 02. Dezember 2010 wird bekanntgegeben, dass die WM 2022 in Katar stattfindet. In einem Land kleiner als Hessen mit nur drei Millionen Einwohnern. Trotz langer Haftstrafen auf homosexuelle Handlungen und massiver Missachtung sonstiger Menschenrechte werden daraufhin Fußballtempel aus dem sandigen Boden gestampft. Der Event kostet das Emirat mindestens 150 Milliarden Euro. Bei der Arbeit starben laut der britischen Zeitung „Guardian“ bisher schätzungsweise 6.500 der zwei Millionen Gastarbeiter, die vor allem aus Indien, Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka ins Land geholt wurde. Sie leben und arbeiten zumeist völlig entrechtet, ohne Pässe und in absolut menschenunwürdigen Zuständen.


Diese WM-Vergabe markierte ein absoluten Tiefpunkt in Sachen korrumpierter Fußballpolitik. Die Profiteure reiben sich schamlos ihre blutverschmierten Hände. In Deutschland stellte dahingehend das nassforsche Auftreten des langjährigen FC Bayern München-Managers und heutigen Ehrenpräsidenten Uli Hoeneß alles in den Schatten. Er beschimpfte in einer Talkshow den exzellent informierten Kritiker der Katar-WM Andreas Rettig als „König der Scheinheiligen“ und forderte ihn dazu auf, dem Emirat mit Dankbarkeit zu begegnen. Schließlich werde das von dort transportierte Öl und Gas auch bei ihm zu Hause für einen wohlig-warmen Winter sorgen. Hoeneß prophezeite eine Verbesserung der Lage für die Arbeiter in Katar im Anschluss an die Weltmeisterschaft. Ein Blick nach Brasilien und Russland nach den dort ausgetragenen Weltmeisterschaften 2014 und 2018 genügt, um dies als völlig unhaltbare Wunschvorstellung zu entlarven. Dort hat sich in Bezug auf Arbeits- und Menschenrechte nichts zum Positiven geändert.


Auf den Umgang mit Homosexuellen, Transmenschen und Frauen in Katar geht Hoeneß überhaupt nicht ein. So steht er wie kaum eine andere Persönlichkeit im Fußball für Doppelmoral und Selbstgerechtigkeit, die der Bevölkerung auch aus der Politik allzu gut bekannt sind. Schließlich weiß jeder Fußballinteressierte, dass das von Hoeneß eingefädelte Sponsoring von „Qatar Airways“ auf den Trikots des „FC Bayern München“ fast 20 Millionen Euro pro Saison einbringt. Der Unmut der in Bezug auf diese Entscheidung ignorierten Vereinsmitglieder war groß. Zu Recht. Doch Kritik bringt den cholerischen, ignoranten und eiskalten Fußballkapitalisten Hoeneß nicht zum Nachdenken, sondern in Rage. Seine Wutausbrüche zeigen, wie sehr er sich seit dem frühzeitigen Ende seiner Spielerkarriere in den 1970er Jahren zum Knecht der globalen Finanz- und Machteliten gemacht hat: „Wer bezahlt denn alles? Die Leute in den Logen…“, so sein entrücktes Gezeter auf der Jahreshauptversammlung des Clubs im Jahre 2019.

Im Umgang mit berechtigter Kritik wegen Menschenrechtsvergehen verweist die Bayern-Verwaltung zu allem Überfluss auf die UN-Unterorganisation ILO, die in Katar mit der Regierung arbeitsrechtliche Reformen aufsetzen und kontrollieren soll. Vermeintlich. Interessant ist, wie unkritisch diese Institution sich positioniert, seit sie ihr Kontrollbüro im zu kritisierenden Emirat bezogen hat. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass Katar jährlich bis zu 25 Millionen Dollar an die ILO bezahlt. Diese Finanzierung durch Katar sei nicht ungewöhnlich und habe keinen Einfluss auf die Arbeit der Organisation, betont die ILO.


Es ist anzunehmen, dass langjährigen Systemprofiteuren jedes Unrechtsbewusstsein abhandengekommen ist. Zu tief war ein Machtmensch wie Uli Hoeneß jahrzehntelang in die Machenschaften von Raubtierkapitalisten wie Horst Dassler involviert. Darüber hinaus wird Hoeneß von Politik und Gesellschaft hofiert. Er durfte gar die große deutsche Integrationskampagne drei Jahre vor der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 als sogenannte Vorbildfigur initiieren.


Doch bekanntlich wendete sich das Blatt, als der deutsche Fiskus einen Datenträger aus der Schweiz erwarb, der unwiderlegbar bewies, dass im Jahr 2000, sechs Jahre vor dem „deutschen Sommermärchen“, der damalige adidas-Chef Robert Louis-Dreyfus dem mit ihm eng befreundeten Hoeneß aus einem Konto der Schweizer Privatbankgruppe „Vontobel“ 20 Millionen Mark für „Spekulationsgeschäfte“ zur Verfügung stellte. Wie lange Hoeneß bei Louis-Dreyfus daraufhin Schuldner war, bleibt ungeklärt. Der Elefant im Raum: Das seinerzeit eingefädelte und bis heute anhaltende Engagement von adidas beim FC Bayern München. Im Jahr 2002 kaufte adidas für rund 77 Millionen Euro zehn Prozent der „Bayern München AG“ und adidas-Chef Herbert Hainer  wird an die Spitze des Aufsichtsrates gewählt. Ein Zusammenhang mit den Hoeneß-Millionen wird von adidas und dem FC Bayern bis heute vehement bestritten.


So bleibt die Analyse von Indizien und Motiven. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es Hoeneß oder seinem gemäß „PETA“ erwiesenermaßen tierwohlfeindlichen Geschäftsbetrieb in Nürnberg zur Zeit der Eröffnung des adidas-Kontozugangs an Finanzen mangelte. Auch der Hinweis auf eine Art „Spekulationssucht“ aufgrund der dokumentierten, von einer einzigen Person kaum realisierbaren Anzahl an Transaktionen, wird letztlich nur von Hoeneß’ Sohn gebetsmühlenartig repetiert. Aufgrund der ausbleibenden, aber gemäß Compliance-Reglements erforderlichen Distanzierung Herbert Hainers von Uli Hoeneß, liegt der Schluss nahe, dass mit dem geheimen Kapitalstock in beiderseitigem Einvernehmen schwarze Handgelder an Stars wie den „Spieler mit der dunklen Seite“, Franck Ribéry, oder Stimmenkäufe für die WM 2006 in Deutschland finanziert wurde. Dass vor allem das langfristige adidas-Engagement beim FC Bayern gegen finanzkräftigere Konkurrenten wie Nike abzusichern war. Erneut zeichnet sich ein Bild mafiöser und clanähnlicher Strukturen, in welchen es bekanntlich Usus ist, dass im Falle einer Verurteilung die Strafe ohne Wehklagen und Eingeständnis abgesessen wird. Dafür darf man nach der Entlassung wieder Präsident seines Clubs werden, von dem man durch sein Schweigen Schaden abgewendet wird.


Fußballkaiser Franz Beckenbauer sieht sich im Zusammenhang mit der gekauften WM 2006 für seine Rolle als weltweiter Stimmensammler ebenfalls großer Skepsis und Kritik ausgesetzt. Doch es spricht einiges dafür, dass es ihm im Gegensatz zu Hoeneß an tieferen Einblicken mangelte. So mag jener Recht haben, der kurz und knapp konstatiert: „Der Franz, der weiß gar nichts“. Das kann auch gelogen sein. Allerdings hatte Beckenbauer jemanden, der sich rund um die Uhr um ihn kümmerte: Robert Schwan. Der Vorgänger von Uli Hoeneß und erster Manager eines Fußballclubs in Deutschland. Wie gut Schwan zu Beckenbauers Gunsten mit Dassler vernetzt war, verdeutlicht das von ihm in Dasslers Auftrag gegründete Unternehmen „rofa“ mit Sitz in der Schweiz. Auf Robert Schwans Tod folgt drei Jahre vor der WM 2006 der neue Beckenbauer-Betreuer Marcus Höfl, dessen Vater Herbert nach seiner Zeit im Eisschnelllauf einem altbekannten Arbeitgeber dient – der Firma adidas.


Einen persönlichen Manager benötigt Uli Hoeneß, im Gegensatz zu Franz Beckenbauer, während seiner langen Karriere nie. Wie so viele Alleinherrscher der internationalen Top-Clubs handelt er nach eigenen Standards. Damit erinnert er an den skandalträchtigen Bunga-Bunga-Berlusconi, der 2017 seinen hochverschuldeten AC Milan für 740 Millionen Euro an chinesische Investoren verhökerte. Oder an Istanbuls Aziz Yildirim, der einer Familie von Großindustriellen entstammt, die mit ihren Unternehmen NATO-Stützpunkte bauen und bei Waffendeals ihre Finger im Spiel haben. Ein Mann, der, wie in der Robert-Enke-Biografie von Ronald Reng geschildert, andere Menschen gerne mit seiner Waffe einschüchterte. Unter all den organisierten Kriminellen sticht Madrids Florentino Perez heraus. In Spanien ist sein Name schon lange Synonym für zügellose wirtschaftliche Macht. Pérez leitet seit 1997 die Baufirma ACS und erfreut sich dabei finanzieller Unterstützung der Bankiers Alberto Cortina und Alberto Alcocer sowie der Familie March, die für die Finanzierung von Francos Putsch im Jahr 1936 hauptverantwortlich zeichnete. Pérez ist ein staatlich geförderter Oligarch, dessen Bau-Imperium auf dem Zugang zu öffentlichen Großaufträgen und privatisierten Dienstleistungen wie Pflegeeinrichtungen basiert. Gleichzeitig macht er sich für eine seit Jahren in Spanien Raum greifende, neoliberale Politik stark, von der in erster Linie Superreiche profitieren. Seine Skandale und Intrigen füllen Bücher. „Real Madrid steht über der Regierung“, soll Pérez gesagt haben. Und er meint damit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht den Verein, sondern sich selbst.


Es ist wie es ist. Gewissenlose Eliten haben das Fußballgeschäft überall auf der Welt im Würgegriff. Ihr einziges Ziel ist Kommerz. Maximaler Gewinn. Als Erfüllungsgehilfen dienen strukturell korrupte Organisationen, die sich von unzähligen Profiteuren in Politik, Konzernen, Verwaltungen und Vereinen umgeben lassen. Der Blick in die Zukunft macht kaum Hoffnung. Es wird keine Demokratie, Compliance oder effektive Korruptionsbekämpfung geben. Auch wenn sich das ehrenwerte Autoren wie Christoph Biermann und gut informierte Ultras im Sinne eines „postmodernen und werteorientierten“ Fußballgeschäfts wünschen. Stattdessen dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis ein fußballbegeisterter Scheich wie Salman bin Ibrahim Al Chalifa aus Bahrain als FIFA-Präsident das Ruder an sich reißt, was ihm 2016 gegen Gianni Infantino noch misslang. Damit wird der nächste gierige Funktionär die Macht übernehmen. Ein Vorfall aus dem Jahr 2011 genügt, um den Thronanwärter einschätzen zu können. In jenem Jahr führt der umtriebige Spross des vier Milliarden Dollar schweren und seit 1783 herrschenden Familienclans während eines Volksaufstandes rund 150 schiitische Spieler, Trainer und Schiedsrichter der berüchtigten Staatssicherheit seines Wüstenstaats zu, um sie foltern zu lassen. Seitdem herrschen in Bahrain wieder Ruhe, Zucht und Ordnung. Und alle freuen sich auf die fernab der Öffentlichkeit sicher längst ausgehandelte WM 2032 in Saudi-Arabien, in der unmittelbaren Nachbarschaft. Die persönlichen Kontakte zu den Entscheidungsträgern werden bereits maximiert. Schließlich ist Noch-FIFA-Präsident Infantino mitsamt Familie im Sommer 2022 nach Katar gezogen.


Kurzum: Der Fußball scheint verloren. Der Sport wurde zum Business. Mit der gleichen institutionellen Korruption wie jeder Investmentmarkt sie aufweist. Doch ein wenig Hoffnung gibt es. Vielleicht ertönt eines Tages der Abpfiff. Zum Ende eines abgekarteten Spiels. Er schallt durchdringend, schrill und laut bis hinauf in die allerfeinsten Logen. Von heute auf morgen meiden die Menschen die protzigen Luxus-Stadien, schalten die Dauerberichterstattung aus und lassen das Business Business sein. Weil sie den Sport wollen. Keinen vielversprechenden Markt, Werbedeals oder Sponsorengelder.


In der Doppelpass-Sendung vom 25. September 2022 stellte Thomas Kessen, der Sprecher des Bündnisses „Unsere Kurve“ klar: „Nein, ich werde nicht ein einziges Spiel der Weltmeisterschaft in Katar gucken“. Daraufhin erwiderte Alfred Draxler von BILD: „Dann darf man auch kein Spiel vom FC Bayern gucken“. Daraufhin wieder Kessen: „Darf man auch nicht. Aber das ist meine persönliche Meinung“. So wird am Ende dieser Sendung, wenn auch nicht in vollem Ernst, die einzig logische Richtung aufgezeigt, die für Fußballbegeisterte Schmerz wie Erleichterung zugleich bedeuten muss.


Es gilt, dem ganzen an Geld- und Geltungssucht unheilbar erkrankten Weltfußballzirkus, inklusive der eigenen Lieblings-Profimannschaft, keine Beachtung mehr zu schenken. Dem Verein seines Herzens kann man auf andere Art und Weise treu bleiben. Denn es gibt ausreichend Amateur- und Jugendspiele sowie andere Sportarten, bei denen es tatsächlich noch um den Sport geht – und nicht um Kommerz, Korruption und das damit zusammenhängende „Sportswashing“ von Großkonzernen, Autokraten und Superreichen. Außerdem spielt man doch am besten selbst – ziemlich schlecht, aber dafür mit vollem Einsatz. Ganz nach dem Motto der deutschen Rap-Gruppe Blumentopf, die bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2015 bei jedem Auftritt das Publikum mitsingen ließ, wenn sie zum Besten gab: „Man bewegt nichts, wenn man sich selber nicht bewegt“. Das ist korrekt. Es gilt sich zu bewegen. Und zwar so weit weg wie möglich von der korrupten Fußballindustrie.




Bild: Street Art Utopia (>)


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