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Raumgewinn
Mein Beitrag für GEGENDRUCK 5, die sich mit dem Thema "Zukunft? Machen!" befasst und seit 15. Juli 2025 unter www.gegendruck.eu bestellt werden kann.
Tom-Oliver Regenauer | 21.03.2025
Der digitale Raum bestimmt unseren Alltag. Vereinnahmt uns. Arbeit, Konsum, Medien, private Kommunikation, Amtsgeschäfte, soziale Interaktion, Hobbys – in weiten Teilen digitalisiert. Ein »Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum«, wie Paul Milgram, Professor an der Universität Toronto, es 1995 bezeichnete. Eine zutreffende Beschreibung. Denn ein Großteil dessen, was der postmoderne Mensch wahrnimmt, denkt, diskutiert, unterstützt, begehrt, ablehnt oder bekämpft ist auf Impulse aus der virtuellen Welt zurückzuführen. Finanzmarkt, Politik, Propaganda, Marketing, Nudging und militärische Operationen – alles gesteuert via und in der Regel erfolgreich wegen maßgeschneiderter Omnipräsenz auf Displays. Nicht umsonst nennt der kanadische Investigativ-Journalist James Corbett das herrschende System mittlerweile »Algokratie«.
Algorithmen bestimmen unsere Wahrnehmung von Realität. Unsere Gedanken und Emotionen. Und damit unser gesamtes Leben. Das dürfte selbst den »Smombies« klar sein – auch, wenn dieser offenbar stetig wachsenden Gruppe die Fähigkeit zur Reflexion wohl gänzlich abhanden gekommen sein muss. Wie sonst kann man es vor sich selbst rechtfertigen, sieben bis zehn Stunden (oder mehr) pro Tag ein leuchtendes Brett vor dem Kopf zu haben und »Likes« als reale soziale Interaktion zu werten? Wüchse sich deren zusehends asoziales Tunnelblickverhalten im öffentlichen Raum – sprich: Lärmbelästigung, stehende Autos an grünen Ampeln, Kollisionen mit irrlichternden Fußgängern der Gattung »Kopf unten«, et cetera – nicht langsam zu einer ernsthaften Behinderung für den kognitiv aufnahmefähigen Teil der Bevölkerung aus, könnte man fast Mitleid empfinden.
Ein langanhaltender Stromausfall könnte dahingehend eventuell heilsame Wirkung entfalten. Denn ohne Standleitung ins kalifornische Plattform-Paradies, ohne Chats, Maps, Likes, Wallets und KI-Assistenten sind nicht wenige Smombies recht schnell mit ihrem Latein am Ende. Und in Notsituationen zählen nicht Follower, sondern Freunde. Familie, Nachbarn, Kollegen. Echte Menschen. Die mit Vor- und Zunamen und einer Postanschrift, die man im Idealfall fußläufig erreichen kann. Die, die stundenlang im Krankenhaus neben dem Bett sitzen, beim Umzug helfen und auch dann noch anrufen, wenn sich die anderen nicht mehr melden. In Krisensituationen ist nichts wichtiger als »Sozialkapital«.
Nun ist es angesichts der soziostrukturellen Fragmentierung der postmodernen Gesellschaften zugegebenermaßen nicht gerade leicht, im Alltag Menschen kennenzulernen, mit denen man mehr als ein paar Sätze wechseln möchte. Vor allem dann, wenn man in einer jener Branchen arbeitet, die im Fokus korporatistischer Propagandaposaunen stehen. Auch der reguläre Kulturbetrieb garantiert heutzutage keine intellektuell bereichernden Begegnungen mehr – im Gegenteil. Und das, was ich in den frühen 90ern als obrigkeitskritische Subkultur kennen und schätzen gelernt habe, existiert so überhaupt nicht mehr. Der Begriff »Anti-Establishment« ist aus dem Sprachgebrauch getilgt. Was sich dieser Tage dafür ausgibt, ist in der Regel subventionierter Etikettenschwindel.
So entsteht bei nicht wenigen kritisch denkenden Zeitgenossen rasch der Eindruck, Teil einer versprengt vor sich hin aufklärenden Minderheit zu sein. Der sprichwörtliche Kampf gegen Windmühlen. In manch einer Region mag das sogar zutreffen. Je nachdem, ob die für »grüne Energie« nutzbaren Freiflächen günstige Windverhältnisse versprechen. Es gibt jedoch allen Grund zur Annahme, dass dieser Eindruck im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung trügt. Von der Wahlbeteiligung über die Vertrauenswerte bis hin zu den Ergebnissen bei Volksabstimmungen in der Schweiz: Stets sind es zwischen 20 und 40 Prozent der Bevölkerung, oft auch mehr, die nicht mitmachen oder sich dem System bereits ganz entzogen haben. Viele davon mögen sich nicht mit den Details beschäftigt haben, die wir als Autoren zusammentragen – dass sie belogen, betrogen und bestohlen werden, merken die meisten aber auch ganz ohne Tiefenrecherche.
Genau aus diesem Grund erleben wir seit 2020 eine Propagandaschlacht ungeahnten Ausmaßes. Es herrscht dünne Luft. Und das liegt nicht nur daran, dass der Elfenbeinturm sich mittlerweile in Höhen reckt, in denen Atemluft knapp wird, sondern an den Lehren, die das von den Bankenkartellen dominierte Herrschaftssystem aus Occupy Wall Street gezogen hat. Denn die am 17. September 2011 als Reaktion auf die Finanzkrise und Banken Bailouts von 2008 gegründete Protestbewegung brachte die Exzellenzen in ihren Glastürmen ernsthaft in Bedrängnis. Als es plötzlich nicht mehr um links und rechts ging, sondern um oben unten – um »Wir sind die 99%« – wurde anschaulich klargestellt, vom wem Macht ausgeht. Von der Masse. Von uns. Von Menschen, die über Ideologien, Differenzen und kulturelle Unterschiede hinweg zusammenstehen, um ein Ziel zu erreichen.
Dementsprechend bemüht war man in den Chefetagen, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Es folgten politische Lippenbekenntnisse, prominente »Unterstützer« – treffender: U-Boote – wie Jeffrey Sachs, Michael Bloomberg oder Nancy Pelosi, geheimdienstliche Massenüberwachung durch FBI und DHS (Department of Homeland Security) und schließlich die gewalttätige Räumung der Protest-Camps. Das Ergebnis: Die Bankenkartelle machten weiter wie bisher und die überparteiliche Protestbewegung spaltete sich auf. Die im linken politischen Spektrum verhaftete Gruppe wurde »progressiv«, dann »woke«. Das rechtskonservative Lager engagierte sich in der Tea Party Bewegung, die 2016 in Trumps MAGA-Kult aufging. Seither schaut man wieder nur nach links und rechts, aber nicht mehr gemeinsam nach oben.
Occupy Wall Street war eine historische Chance, die Parasitärkaste zu bändigen. Oder gar loszuwerden. Genau wie die Corona-Krise. Bedauerlicherweise fielen beide dem Pürierstab deutungselitärer Sozialarchitekten zum Opfer und lösten sich in identitätspolitischen Grabenkämpfen auf. Dementsprechend wichtig ist es, sich frühzeitig auf die nächste Chance vorzubereiten. Sei es ein langanhaltender Stromausfall, die Cyber-Pandemie, ein Finanzcrash, Krieg oder eine Naturkatastrophe. Irgendwann werden die Menschen wieder vereint nach oben blicken.
Vor diesem Hintergrund entstanden in den zurückliegenden Jahren unzählige Projekte. Viele davon sind in der vorliegenden GEGENDRUCK erwähnt. Ob zensurresistente Publikationen auf Nostr oder in gedruckter Form, überwachungsresistente Smartphones, alternative Bildungs- und Gesellschaftsformen, landwirtschaftliche Initiativen, Peer-2-Peer-Zahlungsmittel oder autonom zu betreibende Kommunikationsnetze wie Reticulum – für praktisch jedes Problem existiert bereits mindestens eine Lösung.
All diese Lösungen haben eines gemeinsam: Sie wurden nicht von einem genialen Einzelkämpfer entwickelt, sondern von einer Gruppe, die ein gemeinsames Ziel verfolgt. Von Menschen, die ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und Ressourcen bündeln. Insofern ist genau das eines der wichtigsten Unterfangen, um dem aufkeimenden Totalitarismus der technokratischen Zeitenwende zu begegnen.
Das erkannten auch John Bush und Derrick Broze, als sie ab 2015 das Konzept der Freedom Cells entwickelten. Die Idee ist einfach und dreht sich im Kern darum, acht Personen im näheren Umfeld zu identifizieren, die gemeinsam aktiv werden wollen. Die Betonung liegt dabei auf »aktiv werden«. Denn Gesprächskreise, in denen Nachrichten diskutiert und politische Ideologien gewälzt werden, gibt es schon genug. Ziel ist, acht Personen zu finden, mit denen man wirklich etwas bewegen kann. Menschen, die in Krisen zusammenhalten und sich – wenn möglich – auf Basis ihrer Talente, Fähigkeiten und Ressourcen ergänzen. Demzufolge sollten die Mitglieder einer solchen Zelle in der näheren Umgebung wohnen und persönlich zu erreichen sein. Im Rahmen regelmäßiger Zusammenkünfte eruiert diese Gruppe, welche Prioritäten sie lokal verfolgen möchte und definiert konkrete Projektziele.
Anlegen eines Gemüsegartens, Organisation kommunaler Veranstaltungen, Veröffentlichung einer kostenlosen monatlichen Wurfsendung, Vorträge in hiesigen Bildungseinrichtungen, ein lokaler Radiosender, Aufklärung über die Gefahren bestehender 5G-Infrastruktur oder Nominierung eines Kandidaten für das Bürgermeisteramt – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Entscheidend ist, dass sich die Aktionen auf das lokale Umfeld konzentrieren. Auf den Bereich, auf den man als engagierter Mensch tatsächlich noch Einfluss nehmen kann.
Im besten Fall mausert sich die Zelle zu einer offenen, schlagkräftigen Organisation, die auf andere Gemeindemitglieder attraktiv wirkt und unterstreicht, dass man weder Behörden noch Investoren benötigt, um Projekte zeitnah und erfolgreich umzusetzen. Die beweist, dass »spontane Ordnung« funktioniert.
Unter den gleichen Vorzeichen hat Manova unlängst den »Treffpunkt« ins Leben gerufen – eine Plattform, die es Mitgliedern erlaubt, Gleichgesinnte im eigenen Postleitzahlengebiet zu finden. Analog zum Ansatz der Freedom Cells ist die Angabe persönlicher Daten nicht von Nöten. Eine E-Mail-Adresse und die PLZ genügen, um Menschen aus der eigenen Region zu finden und lokale Treffen zu organisieren.
So lassen sich Räume zurückerobern. Räume, in denen das eigene Engagement noch Wirkung entfalten kann. Einem Aushang an der Bushaltestelle, Flugblatt im Briefkasten, Sticker auf der Parkuhr, Poster auf dem Bauzaun oder Graffiti auf dem verlassenen Gebäude am Ortsausgang lässt sich nicht per Filterblase entkommen. Das direkte Lebensumfeld lässt sich nicht per Knopfdruck »blockieren«. Wer es fertigbringt, die zehntausenden ermordeten Kinder in Gaza online auszublenden, soll ihren blutverschmierten Gesichtern auf dem Weg zu Arbeit begegnen. Der öffentliche Raum ist eine Bühne, eine Leinwand, eine Litfaßsäule – und es ist an uns, diesen Raum wieder in Beschlag zu nehmen.
Das erfordert vom Einzelnen, über den eigenen Schatten springen zu können. Denn es gilt, auch jene anzusprechen, die in den letzten Jahren andere Positionen vertraten. Die Propagandaopfer. Damit sind selbstredend nicht die Verantwortlichen, Rädelsführer und Überzeugungstäter gemeint. Figuren – um Joschka Fischer zu zitieren: »Mit Verlaub (…) – Sie sind ein Arschloch« – wie Karl Lauterbach, Christian Drosten, Alena Buyx oder Lothar Wieler, die ganz genau wissen, was sie tun, sollten nur noch mit Richtern sprechen, die über das jeweilige Strafmaß entscheiden.
Die Propagandaopfer dagegen verfolgen oft die gleichen Ziele wie wir. Sie vertreten im Kern die gleichen Werte. Was beide Seiten daran hindert, in einen verständnisvollen Dialog zu treten, ist die Sprache. Denn wer sich für Klimaschutz einsetzt, meint eigentlich Umweltschutz. Wer die Ukraine unterstützt, ist gegen Krieg. Und gegen Diktatoren. Wer Gendern oder Queer als wichtiges Thema betrachtet, tritt für Menschenrechte ein. Und wer findet, dass Kapitalakkumulation zu ungesunden Machtverhältnissen führt, hat Recht – egal, ob er nun Elon Musk, Peter Thiel, George Soros oder Bill Gates kritisiert. Wir müssen diese sprachlichen Barrieren überbrücken, wenn wir die nächste große Chance gemeinsam nutzen wollen.
Dazu gehört, vergeben zu können, Toleranz zu üben und das Gegenüber nicht in den ersten fünf Minuten belehren und von der eigenen Meinung überzeugen zu wollen. Im Lichte dessen, was in den letzten Jahren passiert ist, dürfte das für viele nicht gerade eine leichte Übung sein. Das ist mir durchaus bewusst. Aber wer besser informiert ist, sich mit den Wurzeln herrschender Probleme befasst, Polarisierungsdialektik verstanden und darauf basierend Lösungsvorschläge entwickelt hat, trägt ein gewisses Maß von Verantwortung gegenüber seinen von Propaganda korrumpierten Artgenossen. Das mag frustrierend sein – ist aber schlicht die Realität, so lange wir uns als Spezies ein Habitat teilen müssen. Alternativen gibt es nicht.
Und die Zeit wird knapp. Ein Blick in die USA verrät, was Europa in naher Zukunft droht – überwachungsstaatliche Totalitärtechnokratie der Marke Palantir. Nur 100 Tage nach Donald Trumps Amtsantritt hat der von Peter Thiel gegründete Spionage- und Killerkonzern bereits Zugriff auf sämtliche Steuer-, Gesundheits- und Bewegungsdaten der US-Bevölkerung und führt diese in einer Datenbank zusammen, um seine KI darauf anzusetzen. Selbst die Daten von Smartwatches und Fitness-Armbändern werden abgesaugt. Kein Datensatz ist mehr tabu. Wie diese Daten künftig eingesetzt werden, und zwar gegen alle Amerikaner, zeigt eine von Palantir entwickelte Software namens »ImmigrationOS« – ein System, das der US-Regierung dabei hilft, das Leben von Migranten vollständig zu durchleuchten und die betroffenen Personen permanent zu überwachen. Inklusive biografischer, biometrischer und Geolokationsdaten.
Die auf Basis dieser Daten entwickelten Empfehlungen wird Washington nutzen, um Menschen in die menschenunwürdigen Supermax-Gefängnisse von El Salvador abzuschieben. Für Deportationen ohne Anhörung, Beweise, Gerichtsverhandlung und Rechtsgrundlage. Siehe der Fall Kilmar Abrego Garcia. Trump plant bereits, neben Migranten auch US-Bürger und amerikanische Ureinwohner abschieben zu lassen.
The Atlantic spricht in einem Artikel vom 27. April 2025 von einem »amerikanischen Panoptikum«. Zu Recht. Denn Palantirs zentralisierter Datenpool wird sich zum mächtigsten Unterdrückungsinstrument der Zivilisationsgeschichte auswachsen – während der neue CDU/SPD-Koalitionsvertrag impliziert, dass Deutschland unter BlackRock-Merz in die gleiche Kerbe schlagen wird. Gegen das, was da auf uns zukommt, waren Corona-Tracking und 2G geradezu harmlos.
Im Lichte dieser Zukunftsaussichten dürfte es also fraglos das kleinere Übel sein, sich in Toleranz und Geduld gegenüber Mitläufern und Propagandaopfern zu üben, um Brücken zu bauen. Beißen wir nicht in diesen sauren Apfel und verzeichnen zeitnah ein paar Raumgewinne – in der realen, analogen Welt – wird es schon bald keine Räume mehr geben, die man verteidigen oder als Rückzugsort nutzen kann.
Albert Camus hielt dereinst fest, »die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft bestehe darin, in der Gegenwart alles zu geben«. Diesem Gedanken folgend gilt es, den eigenen Wissensvorsprung entgegen allen inneren Widerständen konstruktiv zu nutzen, aktiv zu bleiben – oder zu werden – Charakterstärke zu zeigen und tolerant zu sein. Wir haben alle Werkzeuge zur Hand, die wir benötigen. Wir haben den Raum, uns zu entfalten und sind, historisch betrachtet, Teil der größten Widerstandsbewegung aller Zeiten. Sind wir offen, gesprächs- und hilfsbereit, ist es darüber hinaus die größte Chance aller Zeiten.
Die Lösung für die meisten Probleme im Leben sehen wir jeden Morgen im Spiegel. Einzig, oft fehlen ihr Verbündete. Zeit, diese ausfindig zu machen. Denn wir alle werden sie brauchen. Und das sehr bald.
Bild: Netzfund




