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»Du dumme Sau!«
»Ich verlange die Freiheit, die ein Schriftsteller, ja ein Dichter für sich in Anspruch nimmt.« (Klaus Kinski)
Tom-Oliver Regenauer | 30.07.2025
Klaus Kinski war, ist und bleibt eine kontroverse Figur. Ein zumeist unerträglicher Gesprächspartner. Rüpelhaft, laut, abfällig, ignorant und arrogant. Stets unter Strom. Und sofort in Rage. Besucher seiner Auftritte beschimpfte er in sehenswerten Wutausbrüchen schon mal als »dumme Sau« (ab 7:50 Min.) und »Gesindel«. Und Journalisten als »Analphabeten«. Weil er wusste – oder zumindest vorgab, zu wissen – wie schlecht es um Gesellschaft, Medien, Politik und auch ihn selbst bestellt war. Und weil er die Fassaden-Façon der Synthetik-Sause, die Max Mustermann seit einer gefühlten Ewigkeit als Realität akzeptiert, einfach nicht ertragen konnte. Weil er sich selbst nicht ertragen konnte. Kinski reagierte ungefiltert. Schroff. Unkontrolliert. Er war ein Egomane. Dramatisierte alles. Ein »Tyrann«. Aber genau deswegen irgendwie auch frei. Und genau damit konnte kaum jemand umgehen. Am wenigsten die Medien.
Nun sind Kraftausdrücke, Ignoranz und Respektlosigkeit natürlich noch keine Gewalt. Auch wenn das Geschwafel von »Hassrede« und artverwandten Neologismen des wertewestlichen Neusprech uns vom Gegenteil überzeugen wollen.
Man muss sich so etwas nicht anhören, sich die Ausraster und Tiraden von Menschen wie Kinski nicht anschauen, wenn man nicht will. Denn auch das steht jedem frei. Doch wer die Wirkung von Kinskis mithin manischen Manifestationen verfolgt, stellt bald fest, dass das Reservoir, in dem so fragile Gewächse wie Meinungsfreiheit und Kunst gedeihen können, nur über solche Schockmomente zu verteidigen ist. Mit unterwürfig verständnisvollen Konsenskonvoluten hat noch niemand die Welt verändert. Irgendein »Wahnsinniger« muss den verbalen, visuellen oder tonalen Sprengsatz platzieren, der das Bühnenbild der »Truman Show« bei Detonation zumindest kurzzeitig wanken und damit für jeden sichtbar werden lässt. Dann machen es vielleicht auch andere.
Wenn die von den Sittenwächtern des Nachhaltigkeitskorporatismus kontrollierten, zusehends totalitären Strukturen des Konsumkonformismus nicht kontinuierlich bloßgestellt werden – damit sie von einer Gesellschaft autonomer Individuen hinterfragt und über die Reibungshitze konstruktiver Auseinandersetzung rekalibriert werden können – wachsen sie unaufhaltsam weiter. Die postmodernen Monstrositäten müssen dazu gebracht werden, die Fassung zu verlieren. Und das lässt sich oft nur über einen Eklat erreichen. Über den Skandal. Denn den bekommen auch unaufmerksame Zeitgenossen mit.
»Ja, ich habe Gewalt in mir. Aber keine negative. Wenn ein Tiger seinen Dompteur zerreißt, so sagt man, der Tiger sei gewalttätig und jagt ihm eine Kugel in den Kopf. Meine Gewalt ist die Gewalt des Freien, der sich weigert, sich zu unterwerfen. Die Schöpfung ist gewaltsam. Leben ist gewaltsam. Geburt ist ein gewaltsamer Vorgang. Ein Sturm, ein Erdbeben sind gewaltsame Bewegungen der Natur. Meine Gewalt ist die Gewalt des Lebens. Es ist keine Gewalt wider die Natur, wie die Gewalt des Staates, der eure Kinder ins Schlachthaus schickt, eure Gehirne verblödet und eure Seelen austreibt!« (Klaus Kinski)
Die Absenz von Negativität schien sich aber vor allem das Enfant terrible selbst zu attestieren. Denn in Anbetracht der Missbrauchsvorwürfe seitens seiner Töchter Nastassja und Pola scheint Klaus Kinski selbst eine »dumme Sau« gewesen zu sein. Und das ist in diesem Kontext noch sehr zurückhaltend formuliert. Mieses Arschloch träfe es wohl besser, wenn die Ausführungen seines weiblichen Nachwuchses der Wahrheit entsprechen. Dass sie das tun, impliziert ein Tagebucheintrag von Werner Herzog, dem Kinski 1981 offenbar mitteilte, dass er »für das, was er mit seinen Töchtern gemacht« habe, in Amerika »zwanzig Jahre« im Gefängnis säße (Werner Herzog: Eroberung des Nutzlosen, Fischer, 2009, S. 302).
Ein abschließender Beweis für die Richtigkeit der Aussagen von Nastassja und Pola ist das nicht. Zumal Kinskis Sohn Nikolai zu Protokoll gab, dass sein »Vater privat der sanfteste Mensch war, den man sich vorstellen konnte« (Stern Nr. 17/2004). Das eine schließt das andere natürlich nicht aus. Und ein Gerichtsverfahren, das Klarheit schaffen könnte, wird wohl kaum noch stattfinden. So ist man gezwungen, den mutmaßlichen Opfern Glauben zu schenken – und im Zweifel dennoch für den Angeklagten zu sein.
Dass Kinski nach eigenen Angaben mit dem Medienmogul Robert Maxwell befreundet war, dem unter dubiosen Umständen verblichenen Vater der Kinderhändlerin Ghislaine Maxwell, einem CIA-Mossad-KGB-Trippelagenten und Förderer von Jeffrey Epstein, siehe Whitney Webbs Buch »One Nation Under Blackmail«, macht Kinski aber auch nicht unbedingt sympathischer. Dementsprechend stand die mediale Berichterstattung – vor allem nach Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe – dem Selbstbild Kinskis als intellektuelle Gottinstanz diametral gegenüber. So schrieb zum Beispiel der SPIEGEL am 11. Januar 2013 über den zu diesem Zeitpunkt bereits 22 Jahre verblichenen Schauspieler, Autor und Regisseur:
»Klaus Kinski war Getöse, er war geadelt als Enfant terrible, und je häufiger er in Restaurants seine Zigarette in der Suppe löschte, je mehr Mobiliar er zertrümmerte, je mehr Zuschauer er im Theater beschimpfte, desto gefestigter wurde der Status. Seinem Image ordnete Kinski alles unter: die Karriere, die Schauspielerei, die Menschen. Die Frauen waren nicht mehr als Objekte seiner übermächtigen Lust, zumindest war es das Bild, das er von sich zeichnete. Luststrotzend, testosteronschwanger, triebschwer.«
Darauf hätte Kinski vermutlich (wieder) geantwortet: »Wer mich beleidigt, entscheide ich«. Nichtsdestotrotz galt auch in dessen Augen: »Man muss den Menschen vor allem nach seinen Lastern beurteilen. Tugenden können vorgetäuscht sein, Laster sind echt«. Und vieles, was Kinski nach außen darstellte, war nicht echt, sondern Fassade. Eine Rolle. Selbstschutz. Eine Kunstfigur. In Anbetracht seiner »Laster«, Schwächen, Lügen und potenziellen Vergehen war er privat nämlich alles andere als tugendhaft. Die Zusammenfassung auf dem Buchrücken der US-Ausgabe seiner in weiten Teilen auf Hirngespinsten basierenden Autobiographie »ALL I NEED IS LOVE« führt diesbezüglich aus:
»(…) Kinski fand rechtzeitig zwei Auswege aus seiner jugendlichen Hölle – Schauspiel und Sex. Die in deutschen Theatern kultivierte Schauspielerei brachte ihm Ansehen und Reichtum. Und der Sex – der in jungen Jahren mit seiner Schwester begann und sich durch eine Casanova-eske Anzahl von Beziehungen zog, viele davon mit Mädchen, die noch nicht volljährig waren – brachte ihm vor allem Schmerz (…). Kinskis dämonische Energie scheint auch im Alter von sechzig Jahren kein bisschen nachgelassen zu haben: Er trampelt auf jenen herum, die ihn verehren und verflucht die, mit denen er arbeiten muss.«
Ja, Kinski war zerfressen von Geltungsdrang und Trieb. Geplagt von seiner Vergangenheit, von Zukunftsangst und mangelndem Selbstbewusstsein, das er hinter einem unter Strom stehen Wall aus Selbstgerechtigkeit verbarg. Trennt man jedoch dieses objektiv schwer zu beurteilende, da aus dritter Hand stammende Wissen um seine fragile Persönlichkeit vom öffentlichen Auftritt, zeitigte letzterer eine Vielzahl genialer Momente – trotz, oder gerade wegen seines in beispielloser Theatralik dargebotenen Hochmuts. »Niveau sieht« ja auch »nur von unten aus wie Arroganz«, war Kinski überzeugt. Daher war auch »Hollywood« für ihn »ohne Interesse, nervtötend und langweilig. Wäre es nicht so steril, so grenzenlos dumm und aufgeblasen, könnte es sogar komisch sein«.
Seine überbordende Antipathie gegenüber Leitmedien und Kulturbetrieb artikulierte er denn auch so direkt wie kaum ein zweiter. Empfand er eine Frage als dumm – und das war in seinen Augen praktisch jede Frage – sagte er das. Und zwar nicht durch die Blume. Denn Journalisten hatten »überhaupt kein Recht«, ihm »über den Mund zu fahren«, so Klaus Günter Karl Nakszynski, wie er mit bürgerlichem Namen hieß. »Ich spreche im Interview für Millionen von Menschen und nicht für sie«, polterte er einst gegenüber einem Pressevertreter, bevor er ihn im Zuge seines Abgangs als »Analphabeten« bezeichnete. Kinski war überzeugt, dass »die Leute schlechtes Benehmen doch nur deswegen für eine Art Vorrecht halten, weil ihnen« – meint: den Deutungseliten – »keiner aufs Maul haut« (Interview mit dem Stern, 15.03.1979, S. 106 ff).
Den intellektuellen Zirkus des Feuilleton beeindruckte Kinski seinerzeit mit eindrucksvoll gespielten Rollen in Klassikern wie Doktor Schiwago (1965), Nosferatu (1978), Fitzcarraldo (1981) oder Cobra Verde (1987). Auch die schiere Anzahl von Filmen, in denen er aufgrund seines kostspieligen Lebenswandels und der damit verbundenen Finanzengpässe mitspielen musste – über 160 an der Zahl – kann einem Respekt abringen. Mich beeindruckte er aber vor allem mit seiner schelmenhaft-charmanten Nonchalance. Mit einer Leichtigkeit, die über einem bodenlosen Loch an geheimnisvollen Abgründen zu schweben schien. Denn das erste, was ich als sechs- oder siebenjähriger Knirps von Kinski sah, war eine Wiederholung seines legendären Auftritts in der WDR-Talkshow »Je später der Abend« vom Januar 1977.
Nachdem er die Fragen des Moderators Reinhard Münchenhagen konsequent ignorierte und diesen mehrfach mit »Münchhausen« ansprach, begann Kinski, einen aufgebrachten Zuschauer zu maßregeln, der ihm wegen störender Zwischenrufe aufgefallen war. Mit einem süffisanten Grinsen und dem gewohnt überheblichen Habitus sprach er zunächst mit und dann über den zusehends missmutigen Studiogast – bis sogar Moderator Münchenhagen dem betreffenden Herrn in Reihe eins erklären musste, dass er »nicht nur freien Eintritt, sondern auch freien Austritt« habe, wenn ihm die Veranstaltung nicht gefalle.
»Ich kann sie gar nicht so beleidigen, wie sie mir auf den Wecker gegangen sind«, entgegnete Kinski, als der pikierte Studiogast mit erhobenem Zeigefinger begann, dem Schauspieler beleidigendes Verhalten vorzuwerfen.
Münchenhagen schlug sich wacker. Der neben Klaus Kinski sitzende Manfred Krug fand die Runde weitestgehend unterhaltsam. Das im Studio sitzende Publikum wohl auch – mit einer Ausnahme. Und ich hatte mit dem rauchenden Trio das erste Mal jemanden im für mich ansonsten wenig attraktiv wirkenden Flimmerkasten wahrgenommen, der sich nicht an gängige Konventionen hielt. Dem es egal war, welche Gepflogenheiten gelten. Der seinen eigenen Film fuhr – egal, was andere taten oder davon hielten. Das blieb mir im Gedächtnis.
Genau wie Kinskis kürzestes Interview, das er 1985 bei SAT1 gab – oder besser: geben sollte – und schon nach der ersten Frage auf dem Weg zur Tür mit dem Statement »Fuck you« beendete. Oder seine Ausraster bei den Dreharbeiten zu Fitzcarraldo und die cholerischen Ausbrüche gegenüber Werner Herzog und dessen Produktionsleiter. Herzogs Fähigkeit, Kinskis Furie in produktive Bahnen zu lenken, lernte ich dagegen erst später schätzen. Denn seinen Filmen konnte ich in jungen Jahren wenig abgewinnen. Erst Herzogs Dokumentation »Mein liebster Feind«, die 1999 erschien, brachte mich dazu, die komplizierte Beziehung der beiden nochmals zu beleuchten – weil ich als Musikproduzent und Veranstalter mittlerweile selbst mit komplizierten Persönlichkeiten, sprich Künstlern zu tun hatte.
Das wiederum führte zu einem gewissen Respekt für Kinskis Unverblümtheit – denn er war einer der ganz wenigen Stars, der offen einräumte, dass er »Filme für Geld mache, ausschließlich wegen des Geldes«. In seiner Autobiographie fügte er dem auf Seite 301 hinzu:
»Filme machen, bedeutet Geld. Geld bedeutet, sich freizukaufen aus der Sklaverei. Ich mache also weiter«.
Ähnlich freimütig war in der Filmbranche eigentlich nur Marlon Brando, der erklärte: »Auch ich bin käuflich. Ich habe dumme Filme nur wegen des Geldes gemacht«. Derlei Eingeständnisse mögen nicht dem Zerrbild des verkopften, in Drehbuch, Rolle oder Text verliebten Darstellers, der mit sich und seinem Ausdruck ringt, entsprechen, aber sie sind authentisch. Und genau diese Authentizität fehlt heute allerorten.
Konzertbühne, Tonstudio, Theater, Talkrunde, Zeitung oder Bildschirm: Überall nur seichte Imitationen dessen, was dort unter hochtrabenden Titeln, umrahmt von großmundigen Projektbeschreibungen eigentlich stattfinden sollte. Und dort, wo man wortwörtlich ankündigt, aus dem Rahmen zu fallen, ist dieser meist gar nicht mehr gegeben. Der von Stuhlkreis-Demagogen dominierte Kulturbetrieb dieser Tage ist eine Petrischale zur Kultivierung isolationistischer Kreativitätssimulationen. Ein Sammelbecken für geistig tote Konformisten. Nicht zuletzt, weil sich niemand mehr traut, die Dinge beim Namen zu nennen. Denn dazu muss man hin und wieder mit den Konventionen seiner Zeit brechen – so wie Klaus Kinski – und in Kauf nehmen, dass Budgets gestrichen, Tickets nicht verkauft und Fördermittel nicht bewilligt werden.
»Ich bin nicht der offizielle Kirchen-Jesus, der unter Polizisten, Bankiers, Richtern, Henkern, Offizieren, Kirchenbossen, Politikern und ähnlichen Vertretern der Macht geduldet wird. Ich bin nicht euer Superstar!« (Klaus Kinski)
So muss man an dieser Stelle eigentlich für mehr Kinski plädieren. Für mehr Mut. Für Kompromisslosigkeit. Für eine Klarheit der Sprache, deren Rhetorik nicht mit jeder Silbe nach Konsens lechzt. Themenfelder, auf denen eine sachliche Diskussion längst keinen Sinn mehr macht – weil sie mit den von Herrschaftsdialektik korrumpierten Zeitgenossen oft nicht mehr möglich ist – gibt es mittlerweile wahrlich genug.
Warum soll man einem Mitmenschen beispielsweise erklären, was Technokratie ist, wenn das Gegenüber es partout nicht sehen will – und sich in seiner Rolle als obrigkeitshöriger Steuersklave wohler zu fühlen scheint als in Freiheit? Das ist sinnlos. Vergebliche Liebesmüh. Und jede Frage danach, was nun die Gründe für dieses autodestruktive Verhalten sein mögen, ist im Grunde dumm. Denn die sind so individuell, dass sich vielleicht ein paar allgemeine Beobachtungen, Handlungsmuster und Denkmodelle ableiten lassen, aber keine Antwort auf die Frage, wie man diesem einen Menschen begreiflich macht, dass Technokratie schlecht ist.
Ein Idiot bleibt ein Idiot. Und korrupte, machtversessene, menschenverachtende Parteimarionetten sind nun mal Drecksäcke. In einer Zeit, wo Anwaltskanzleien im Auftrag von Spitzenpolitikern in industriellem Ausmaß gegen »Delegitimierung« und Beleidigung im Internet vorgehen, werden Spitzenpolitiker vermutlich viel zu selten beleidigt.
»Die deutsche Sprache ist eine der schönsten und ausdrucksvollsten aller Sprachen – wenn man sich ihrer Kraft bedient! Ich verlange die Freiheit, die ein Schriftsteller, ja ein Dichter für sich in Anspruch nimmt.«
»Immer dieser sterilen und idiotischen Fragen, mit denen es einfach vertuscht und abgetan wird (…). Zeit ihres Lebens – da war es schon zu spät – hat man sie in Ghettos gehalten. Ihr lebt alle in Ghettos. Die ganze Menschheit lebt in Ghettos. Ein Ghetto fasst das nächste ein (…). Diese ganze Atmosphäre ist so perfekt hinterlistig. So mörderisch perfekt. Es wird immer mörderisch perfekter. Und die Menschen sind die Opfer davon (…). Es ist das Jahrhundert der Erpressung und Verleumdung.« (Klaus Kinski, 1985)
Und leider nicht das erste. Das merkt man vor allem dann, wenn man sich mit der transgenerational organisierten Kriminalität beschäftigt, die uns regiert. »Wer seinen Horizont erweitert, verkleinert den Himmel«, sagte Kinski einmal dazu.
Auf dem gleichen Weg verlieren viele andere große Künstler an Glanz, je mehr man sich mit deren persönlichen Abgründen beschäftigt. Denn auch sie waren oder sind nur Menschen. Was zählt, ist ihr Werk. Das Vermächtnis. Das kann man – und muss man in vielen Fällen vielleicht sogar – losgelöst von der Person, losgelöst vom Zwischenmenschlichen betrachten. Sonst beraubt man sich eines Fundus an Inspiration, der, wie im Falle von Kinskis Herrschafts- und Systemkritik, Ingeniosität und Wortgewalt, durchaus positive Impulse für den eigenen Aktionsradius zu setzen vermag.
Die raumeinnehmende Wucht von Kinskis Auftritt, die stringente Ignoranz jeglicher Konventionen, die nach außen getragenen Marter seiner gequälten Seele, die sich – wie er es ausdrückte – immer gewaltsamer auf seinem Gesicht abzeichneten, und die zuweilen hemmungslose Brachialität seiner Rhetorik sind auch heute noch Hebel, um die zeitgeistig flexible Inklusionsidiotie der Gegenwart herauszufordern. Denn wenn es zwei Dinge gibt, mit denen die herrschende Kaste von Supranationalisten nicht umgehen kann, sind es Humor und Furchtlosigkeit.
»Ich kenne meine Stimme und meine Ausdruckskraft, deren Skala grenzenlos ist. Der Rest wird aus dem Instinkt, aus der Situation entstehen, aus dem Schock des erlebten Augenblicks.« (Klaus Kinski, Autobiographie, S. 106)
Ob Ben Becker mit »dem Schock des erlebten Augenblicks« etwas anfangen kann, weiß ich nicht. Seinem Lebenswandel nach zu urteilen, vermutlich schon. Nach meinem Dafürhalten ist er jedenfalls der einzige deutschsprachige Schauspieler, bei dem die eindringliche Intensität während der Rezitation von Texten stellenweise an Kinskis Vortrag erinnert. Blixa Bargeld ist vermutlich noch näher dran – auch in Sachen Lebenswandel – aber der ist eben kein Schauspieler. Deshalb möchte ich dieses Essay mit einem »Intro« beenden, also mit der ersten Anspielstation eines 2002 veröffentlichten Hip-Hop-Albums namens »Herzessenz«. Produziert wurde die besagte Platte von Roey Marquis II., einem umtriebigen Urgestein urbaner Kultur aus Frankfurt am Main. Sprecher des hörenswerten Intros: Ben Becker.
»Ich weiß nicht, wer ich bin und wer ich war. Ein Fremder vor mir selbst – und neu für mich. Und alt, wenn ich im Spiegel sehe. Ich glaubte, dass ich überall zu Hause sei – und war schon heimatlos bevor ich noch ganz dort war. Ich fürchte mich doch eigentlich vor nichts. Und dabei fürchte ich oft alles. Ich war in allem und ich wollte nirgends sein, wenn ich in allem war – und sehne mich nach Einsamkeit, sobald ich nicht alleine bin.
Ich bin voll energiegeladener Ideen – und voll von so viel Traurigkeit. Ich will leben. Und ich will sterben. Und ich tue beides oft. Ich liebe meine Sonne. Und ich hasse sie, weil ich begreife, dass ich ihr nicht entkommen kann.«
Bild: Netzfund/Klaus Kinski