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Konterkarierende Kultur

»Unsere Eigenschaften müssen wir kultivieren, nicht unsere Eigenheiten.« (Johann Wolfgang von Goethe)





Tom-Oliver Regenauer | 13.08.2023


Musik verbindet, ist eine universelle Sprache, die sich über Grenzen, Ethnien, Ideologien, Religionen und Epochen hinwegsetzt. Ihr Klang, dem die zuweilen fast surreal wirkende Kraft innewohnt, aus kalter, bedrückender Stille einen warmen, harmonischen Raum zu formen, bringt, ja schweißt Menschen zusammen. Seit Jahrhunderten vollbringen es kunstvoll organisierte Tonfolgen, Barrieren zu überwinden, die ohne diese tonale Magie kaum aufzubrechen wären. Opern, Arien, Sonette, Hymnen, Fugen, Balladen, Songs – sie überdauern Kriege und Katastrophen, Gesellschaftsformen und Tyrannen, Strömungen und Zeitalter. Es ist dabei nicht einmal erforderlich, der Sprache des Komponisten, Musikers oder Sängers mächtig zu sein. Jeder Mensch, der zu emotionalen Wallungen fähig ist, versteht, auch ganz ohne Worte, was der Urheber des Werkes mitzuteilen hat. Denn Musik ist eine universelle Sprache.

 

So brillieren in Studios und auf Bühnen nicht selten bunt zusammengewürfelte Bands, bei denen jedes Mitglied aus einem anderen Land kommt, eine andere Sprache spricht. Die Instrumentalisten verstehen sich blind, harmonieren nonverbal. Sie verständigen sich mit Noten und Rhythmen, mit Mimik und Körpersprache. Und auch das Publikum kommt oft aus aller Herren Länder angereist. Bei großen Festivals treffen Menschen aller Altersgruppen, aus jedem Erdteil, jedem Kulturkreis aufeinander und verstehen sich. Friedlich. Ganz ohne über ein gemeinsames Vokabular zu verfügen. Denn bei Kunst geht es um etwas Höheres. Ein übergeordnetes Selbstverständnis. Sie kommuniziert auf einer anderen, geradezu spirituellen Ebene. Wenn die Interpreten auf der Bühne ihre Hits und Klassiker im dämmernden Licht eines milden Sommerabends anstimmen, zelebrieren sie gemeinsam mit den Zuhörern eine universelle Verbundenheit. Schon mit dem ersten Ton, der im Auditorium erklingt, verschmelzen die Besucher einer musikalischen Darbietung zu einer Einheit. Werden zu einer wogenden Masse. Egal, ob es dutzende, hunderte oder abertausende sind.

 

»Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite«, hielt Augustinus Aurelius dereinst fest. Er hatte Recht. Denn ich bin Musiker. Und viel gereist. Ich hatte das Glück, einen großen Teil dieser Welt sehen zu dürfen. Mit all ihren Sonnen- und Schattenseiten. In der Rückschau erscheint mir ein Leben ohne diese Erfahrungen undenkbar, nahezu unmöglich. Denn erst mit Kenntnis von der Welt wurde mir mein Platz darin bewusst, wurde mir klar, was wirklich zählt. Erst durch die persönliche Konfrontation mit Grenzen, Konflikten, Armut, Kriegen, Leid, aber auch Traditionen, Bräuchen, Feierlichkeiten und Freudentänzen all der anderen Kulturen auf diesem Planeten offenbarte sich mir, was mich von ihnen trennt – und vor allem, was mich mit ihnen untrennbar verbindet.

 

Überall wo ich hinging, um mit anderen Menschen gemeinsam Musik zu machen, war Sprache irrelevant, waren weltliche Gedanken zweitrangig. Man spürte einander – als gleichgesinnte Wesen einer Spezies. Verstand sich wortlos. Oder notfalls mit Händen und Füßen. Ähnlich geht es wohl auch Vertretern und Anhängern der bildenden Künste. Skizzen, Ölgemälde alter Meister, Skulpturen, unscheinbare Stillleben, Aquarelle, selbst Hieroglyphen und Höhlenmalereien sprechen mit dem aufmerksamen Betrachter. Und zwar weit über ihr Motiv, ihr Entstehungsjahr oder den Stil ihres Erschaffers hinaus. Denn Kunst kommt von innen. Muss artikuliert, manifestiert, komponiert werden. Ein Zwang. Sie bricht heraus. Und sie kommt von unten, wird von uns gemacht – von den Tagelöhnern, Langschläfern und Arbeitslosen, den Arbeitern und Angestellten, von Mindestlohnempfängern, Aussteigern, Lebenskünstlern, Unangepassten und Rebellen. Nicht von der herrschenden Klasse. Oder wann haben Sie das letzte Mal einen König, Diktator, Präsidenten, Konzernchef, General oder Philanthropen gesehen, der einen feingeistigen Song ersonnen, ein fesselndes Buch geschrieben oder ein bewegendes Bild gemalt hätte? Eben.

 

»Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.« (Victor Hugo)

 

Kunst und Kultur sind Ausdruck des Innersten. Von Menschen. Von unten. Von Herzen. Aus der Seele. Von »denen da oben«, der Prädatorenkaste, sind derartige Bereicherungen gesellschaftlicher Kohabitation in der Regel nicht zu erwarten. Denn obschon auch jene an der Spitze der Einkommenspyramide biologisch zur Gattung Homo sapiens zu zählen sind, haben sie nicht selten alles Menschliche abgelegt. Sie führen Krieg, opfern gewissenlos Untergebene für Partikularinteressen, negieren moralische Grundfesten. Zügelloses Profitstreben, Machtgier, Kontrollneurosen und Größenwahn haben die kursgebenden Vertreter unserer Spezies im Würgegriff. Deswegen haben sie vergessen, oder blenden aus, was uns Menschen wirklich verbindet. Und das sind nun einmal nicht supranationale Organisationen, überstaatliche Abkommen oder die global operierende Plattform- und Aufmerksamkeitsökonomie, sondern Werte, Gefühle und die gemeinsame Geschichte. Die kleinen Freuden des Lebens. Eine glückliche Familie. Wir einfachen Menschen haben das längst verstanden, haben allgemein gültige Menschenrechte verinnerlicht und wollen mit den Völkern dieses Planeten in Friede und Freiheit leben. Nur die Herrschaftskaste hat, ob ihrem Gerangel um Macht, ein Interesse daran, diesen Umstand zu ändern, versucht in regelmäßigen Abständen, uns gegeneinander aufzuwiegeln, will vergessen machen, was war – damit wir akzeptieren, was kommt. Neue Feindbilder werden gesetzt, Bevölkerungsgruppen pauschal herabgewürdigt, ausgegrenzt, diffamiert, bespuckt, barbarisiert. Ausgemerzt? Wer weiß. Jedenfalls sollen wir wieder Angst haben, sollen hassen. Vielleicht auch töten.

 

Nach Terroristen, Corona-Maßnahmen-Kritikern und Klima-Leugnern sind es nun vor allem die Russen, zu deren Verachtung wir angehalten werden. Ein ganzes Volk. Pauschal zu Abschaum erklärt. Ein Volk, das den Deutschen maßgeblich dabei half, die dunklen Jahre der NS-Diktatur zu beenden. Ein Volk, das genau wie jedes andere aus einfachen Menschen besteht, die Krieg fürchten und verabscheuen. Ein in weiten Teilen armes Volk, das ein einfaches, ländliches Leben führt. Hier wie dort rennt niemand vom Freudentaumel erfasst, sehenden Auges ins Verderben eines Schlachtfeldes. Sippenhaft und Kontaktschuld sollten aus gutem Grund ein Relikt der Vergangenheit darstellen. Kein normaler Mensch deklassiert sofort die gesamte Nachbarschaft, nennt jeden seiner Nachbarn einen Untermenschen, nur weil ihm der Hausmeister des Wohnblocks auf die Nerven geht. Das ist primitiv. Und trotzdem genau das, was die Obrigkeit derzeit von uns verlangt.

 

»Man kann ohne Liebe Holz hacken, Ziegel formen oder Eisen schmieden. Aber man kann nicht ohne Liebe mit Menschen umgehen« (Leo Tolstoi)

 

Anstatt sich blindlings um die Flagge zu scharen und den Rattenfängern zu folgen, gilt es, sich der kulturellen Errungenschaften, der verbindenden Elemente jener Gesellschaft zu erinnern, die wir nun im Blutrausch meucheln sollen. Denn genau wie jede andere Nation hat Russland eine Vielzahl großer Geister hervorgebracht, Genies, die uns Meisterwerke, Klassiker und Unikate hinterlassen haben. Stravinsky, Tschaikowsky, Schostakowitsch oder Prokofiev schufen Meilensteine kontinentaleuropäischer Kultur, waren getrieben von einer Mission, einer Idee, einer übermannenden Emotion, die es in universeller Sprache künstlerischen Ausdrucks festzuhalten bedurfte. Aus diesem Grund verstehen wir ihre Nachrichten aus der Vergangenheit noch in der Postmoderne – ganz ohne das kyrillische Alphabet zu beherrschen. Denn Kunst kennt keine Grenzen. Landkarten dagegen schon. Umso bedeutsamer erscheint der Umstand, dass sowohl Kunst als auch Wissenschaft sich stets überstaatlich organisierten, dass Gleichgesinnte im internationalen Austausch mit den relevanten Zirkeln ihrer Zeit standen und etatistische Barrieren ignorierten.

 

Vor diesem Hintergrund sollten wir uns dieser Tage die beachtlichen wie bezaubernden architektonischen Zeugnisse russischer Kunstfertigkeit betrachten. Die Basilius Kathedrale auf dem Roten Platz, die Jagdresidenz Kolomenskoje, die Eremitage in St. Petersburg, in der zehnmal mehr Exponate ausgestellt sind als im Louvre, Schloss Peterhof, »das Versailles von Russland«, oder die kuriosen Holzbauten auf der Kizhi-Insel. Wir sollten uns häufiger die Landschaftsmalereien von Lewitan, die einzigartigen Waldgemälde von Iwan Schischkin oder den Realismus eines Ilja Repin zu Gemüte führen. Oder die unterhaltsamen Kurzgeschichten von Anton Tschechow. Gerade vor zwei Jahren hätte Fjodor Dostojewski seinen 200. Geburtstag gefeiert und wurde aufgrund des runden Jubiläums geehrt – der meistgelesene russische Autor der Welt – dessen analytische Betrachtungen der menschlichen Psyche bis heute zu verblüffen wissen. Der Dichter Alexander Puschkin ist ebenfalls weit über die Gemarkung seiner riesigen Heimat hinaus bekannt. Und auch der russische Philosoph und Moralist Leo Tolstoi, Verfasser von »Anna Karenina« oder »Krieg und Frieden«, erlangte nicht zu Unrecht Weltruhm.

 

Wer sich zwischen Ost und West auf die Suche nach Unterschieden macht, stößt vor allem auf Gemeinsamkeiten. Wie immer, wenn es um das Zusammenleben von Menschen geht. So sind natürlich auch nicht nur die Metropolen des Wertewestens ein heißes Pflaster für urbanes Leben und Subkultur. Auch in russischen Großstädten tobt das Leben, gibt es geschäftige Cafés, Konzerte, Clubs, kulinarische Tempel und nächtliche Ausschweifungen. Wahrscheinlich ist das Nachtleben in Moskau, St. Petersburg oder Omsk mittlerweile sogar aufregender als im dogmatisch-woken Berlin.

 

Selbst die Hip-Hop-Szene steht der hiesigen in nichts nach. Im Gegenteil. In Russland gibt es derzeit wohl mehr unangepasste Rapper, die kein Blatt vor den Mund nehmen, als hierzulande, wo sich der Kulturbetrieb nahezu gänzlich für Herrschaftsnarrative prostituiert. Auf manch Moskauer Bühne herrschen recht raue Töne. Soziale Missstände, Korruption und Putins Regierung werden von der jungen Generation offen kritisiert. Man nimmt kein Blatt vor den Mund. Hin und wieder versucht der Kreml natürlich, Konzerte abzusagen oder deren Durchführung zu erschweren – doch Kultur bricht sich Bahn. Vor allem Sub- und Jugendkultur. Auch, und gerade, wenn man sie unterdrücken will. Im Ergebnis dürfte man sich als russischer Künstler derzeit weniger eingeschränkt fühlen, weniger Selbstzensur üben müssen, als es die deutungselitären Leitplanken im besten Deutschland aller Zeit verlangen.

 

Anstatt »die Russen« also über einen Kamm zu scheren, wie vom Zentralkomitee in Berlin empfohlen, sollten wir uns intensiver mit ihnen beschäftigen, sollten versuchen, ihre Kultur zu verstehen. Denn alle Menschen sind gleich! Ohne Ausnahme. Wir alle sind Vertreter ein und derselben Spezies. Und wir haben die gleichen Fressfeinde – jene Zeitgenossen nämlich, die die Auffassung vertreten, sie hätten das Recht, uns zu beherrschen.

 

Wer sich auf sein Gegenüber einlässt, ehrliches Interesse an der Geschichte des anderen hegt, wer fragt und forscht, entwickelt Empathie. Selbst für vermeintliche Opponenten. Deswegen sollten wir uns dringend wieder mit den menschlichen und feingeistigen Aspekten unserer Zeitgenossen beschäftigen, nicht mit deren politischer Kaste. Mit den kulturellen Errungenschaften, anstatt blutdürstiger Propaganda. Denn auch Russland lässt sich nicht auf eine Person, einen Egomanen und modernen Zaren und seine Oligarchen reduzieren – es besteht zuvorderst aus fast 150 Millionen Artgenossen. Der Alltag des Landes wird bestimmt von Mitmenschen, mit Menschen, für Menschen. Manch eine Tradition, manche Vorliebe, manch eine Überzeugung mag auf Bewohner Westeuropas befremdlich wirken, ja. Doch betrachten wir das kulturelle Schaffen der russischen Bevölkerung, erkennen wir, wie ehrlich Kultur sein kann. Der menschliche Ausdruck in seiner reinsten Form ist nicht oktroyiert, transportiert kein Herrschaftsnarrativ, keine Ideologie und keine versteckte Agenda – Kultur reflektiert, abstrahiert, konterkariert oder devalviert die sozioökonomischen Strömungen ihrer Epoche, fängt sie ein und konserviert sie. Sie reflektiert den herrschenden Zeitgeist aus der Perspektive jener Menschen, deren Zusammenleben im Geist der Zeit Kultur erst entstehen lässt.


Bevor uns die fanatisch flötenden Fanfaren der Kriegstreiber also ins nächste historische Unglück stürzen, einen dritten Weltkrieg, weil man in den Elfenbeintürmen korporatistischer Macht inhumane Pläne für geopolitische Rochaden und biotechnologischen Überwachungskapitalismus verfolgt, man den kollektivistisch konditionierten Pöbel wie üblich wieder nur als Kanonenfutter sieht, als Verfügungsmasse, sollten wir uns bewusst machen, wer hier eigentlich gegen wen anzutreten gedenkt – und ob der aktuelle Konflikt an Russlands Außengrenzen, wie auch jeder andere Krieg, überhaupt der unsrige ist. Denn die Geschichte zeigt, dass es nicht die einfachen Bürger sind, die militärische Konflikte vom Zaun brechen, sondern jene, die sich dazu aufschwingen, über sie zu herrschen.

 

Oder wollen Sie sich für eine korrupte Regierung, die die Interessen von Großkapital und Konzerneliten vertritt und sich einen feuchten Kehricht um ihr Wohlbefinden schert, in einen Schützengraben werfen, um auf Mitmenschen zu schießen, die sie nicht kennen, die ihnen nichts getan haben, die Frau und Kinder haben? Wollen Sie für einen neofeudalistischen Staatsapparat ihr Leben opfern, dem selbiges nie einen Cent wert war? Sind Sie wirklich bereit, ihre Zukunft, die ihrer Familie, und, im Falle eines nuklearen Schlagabtausches, die ganz Kontinentaleuropas für das Polykrisen-Monopoly der Prädatorenkaste auf Spiel zu setzen? Ich jedenfalls nicht.

 

»Man kann einen Krieg genauso wenig gewinnen wie ein Erdbeben.« (Jeanette Rankin)

 

 



 

Bild: Netzfund





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